Eifeler Erinnerungen

Hein Schäfer

Armut

»Eine hohe Steuererklärung bringt Ansehen ein — der Arme aber bleibt immer am Boden«, schreibt der Römer Ovid (Fasti 1422/23). Dagegen sagt Doktor Faustus bei Goethe: »In dieser Armut welche Fülle«, als er zum ersten Mal Gretchens Stube betritt.

Sind die Armen die Verdammten dieser Erde oder taugt die Armut für romantische Verklärung?

Der Betroffene jedenfalls schämt sich ihrer, die Armut sucht sich zu verstecken. Die Menschen der Eifel waren arm, unglaublich arm. So wird das Wort eines neu eingeführten Pastors von Kirchsahr überliefert, der es nicht fassen konnte. Er sah, daß im kältesten Winter die Kinder ohne Mantel zur Kirche kamen, und rief aus: Sind denn die Leute hier wirklich so arm!

Nicht übersehen dürfen wir allerdings die großen Unterschiede zwischen »Eifel« und »Niederland«, zwischen denen auf dem Berge und denen im Tal, zwischen denen abseits von Straße und Eisenbahn und denen, die an diesen Verkehrswegen wohnten, zwischen Landstrichen guter Böden und mageren, sehr mageren Böden. Alle vier Gegensätze fanden sich deutlich markiert auf dem Gebiete des Kreises Ahrweiler. Hinzu kommt als Erschwernis für die Kommunikation, daß der Kreis von mehreren Sprachgrenzen durchzogen wird, was gegenwärtig dazu führt, daß die Mundarten deutlich zurückgedrängt werden. Wenn ein Eifeler die Volkskunde von Adam Wrede liest und auf das üppige Essen und reichliche Trinken stößt, von dem allenthalben die Rede ist, und das im einzelnen auch stimmen mag, dann kann das auf ihn wirken wie damals Clara Viebigs »Weiberdorf« auf die Leute von Eisenschmitt.

Bei uns, auf der Höhe des Ahrtals, ließ sich die Wohlhabenheit eines Dorfes leicht ablesen an der Anzahl der Pferde. In Plittersdorf waren alle Leute landwirtschaftlich tätig, aber niemand war imstande, ein Pferd zu halten. Auch Ochsen waren selten, das Futter reichte kaum für 2 bis 4 Kühe. Dauerte der Winter lange, spöttelte man über diesen oder jenen Bauer: »Dem bläst der Wind durch die Scheuer«, was heißen sollte, er hat nichts mehr in der Scheune, womit er sein Vieh füttern kann. Brüllte das Vieh zu laut im Stalle, dann machte die Bauersfrau sich heimlich auf den Weg (ein Mann hätte diese Arbeit nie getan). Sie nahm mit sich ein sackleinenes Vierecktuch und die Kromm, ein Schneidgerät wie eine Sichel etwa, nur schwerer. Sie begab sich an irgendeinen versteckten, landwirtschaftlich nicht genutzten Hang, wo Heidekraut wuchs. Hier band sie sich das Tuch so vor den Körper, daß sie das abgehackte Kraut nebst einigen etwa gefundenen Grasbüscheln hineinstecken konnte. War das Tuch gefüllt, schnürte sie es zu einer »Bürde« zusammen und trug es auf dem Kopf nach Hause. Diese Art des Tragens war sie seit eh gewohnt, sie trug es freihändig.

Im Stalle schauten die Kühe zwar mit großen Augen, wie das ihre Art ist, auf diese Sorte Futter. Die erwartete Milch konnten sie damit kaum produzieren. Und die Milch war für die Bauersfrau so wichtig! Nicht daß sie damit ihrer Familie eine gesunde Milchspeise bereitet hätte. Alle Milch wurde entrahmt und zu Butter verarbeitet, nur Mager- und Buttermilch durfte getrunken werden. Da es keine Möglichkeit gab, Milch zu verkaufen, war der Erlös aus der Butter neben dem Verkauf der Eier für sie die einzige Möglichkeit, an Bargeld zu kommen. Und sie hatte doch auch gerne ein paar Mark in der Hand.

Die vorhin beschriebene Futterbesorgung hieß »Kroggen«, mit kurzem geschlossenem o gesprochen. Mochte das Kroggen noch so heimlich und verschämt geschehen, einst muß ein böser Nachbar zugehört haben, wie eine Mutter ihre Tochter aufforderte, das fertige Bündel zu tragen. Die Tochter entgegnete: »Motte, drach du de Büede, ech mache mi de Hoar schroh« (Mutter, trag du die Bürde, ich verderbe mir die Frisur). Ob man einen Widerspruch sah zwischen einem, der kroggen geht, und der Sorge um das gesplegte Haar, oder ob überhaupt diese niedrige Tätigkeit dem jungen Mädchen für immer ein Makel bleiben sollte, mit diesem Wort wurde die junge Eifelerin ihr Leben lang geneckt.

Ein anderer Ausspruch, der sich bis heute lebendig erhalten hat, wird zu diesem Thema aus Weidenbach berichtet. Zwei Frauen harten sich bis weit hinaus in den Staatsforst gewagt, um dieses Futter zu suchen. Sie begegnen dem Förster, der sie wegen ihres Tuns befragt. Da sagt die eine, wobei sie sich um Hochdeutsch bemüht: »Wir müssen bis hierhin kommen, ums Dorf, da gibt’s nichts mehr zu krauken«. Sie suchte, ein Dialektwort in die Schriftsprache zu setzen, die dieses Wort nicht kennt. Bemerkenswert, daß die Frau, die mir diese Geschichte erzählte, gleich hinzufügte: »Wir selbst sind nie zum Kroggen gegangen«. Bemerkenswert auch, daß die Dörfler solche Sprachschnitzer derart beachteten und tradierten. Wie mag sich die Frau geschämt haben, immer wieder, wenn man ihr das Wort vorhielt. Man schämt sich der Sprache, so wie man sich der Armut schämt. Warum wohl?

»Man kann auch die Stremp rauchen«

An einem Markttag im Kriege waren die Männer aus Plittersdorf nach 1 1/2stündigem Fußweg über Dümpelfeld mit der Bahn angereist, das Ühmchen, ihr Bekannter, kam aus genau entgegengesetzter Richtung und hatte 2 Wegstunden hinter sich. Er begrüßte die alten Bekannten, die von ihm, da er als pfiffig galt, eine gute Neuigkeit erwarteten. Und bald rückte er damit heraus. Es betraf den Tabak, und voll Stolz verkündete er seine letzte Erkenntnis: »Man kann och de Stremp röche!«

Vor 50 Jahren (1932) wurde der Kreis Adenau aufgelöst. Preußische Beamte hatten seine Gestalt und Umfang exakt abgezirkelt: von keinem Punkt der Peripherie waren es mehr als 4 Stunden Wegs bis zum Zentrum, und diese Entfernung war »zumutbar«. Wer allerdings Kühe und Schafe zum Markte zu treiben hatte, brauchte etwas länger: Doch von Beamten darf man nicht verlangen, daß sie es neben dem Menschen auch dem Vieh recht machen.

Wir, die wir an der äußersten Nordost-Grenze wohnten, mußten früh aufstehen, wenn wir eine »Brong, Rüet oder Schimmel« auf dem Markte verkaufen wollten. Fünf Stunden wurden für den Anmarsch angesetzt. Dazu verlangte die Kuh zwei Begleiter, einen der vorne zog, und einen, der hinten trieb. Das machten meine Schwester und ich, während Vater von Dümpelfeld aus mit dem Zug fuhr. Er hätte auch in Kreuzberg oder Brück abfahren können, aber das kostete 20 Pfennig mehr. Ohne diese doppelte Begleitung hätte das Tier den Gehörsam verweigert; mehr von ihm zu verlangen, wäre eine Zumutung gewesen. Was uns Kindern zugemutet wurde, danach fragte niemand. Es war aber auch nicht so schlimm.

Da die Kuh den Rückweg nicht mehr hätte leisten wollen, begann für uns das Bangen auf dem Markte selbst. Mit Spannung verfolgten wir Kinder das Geschehen, die Kuh mußte ja verkauft werden. Händler kamen und prüften, fühlten nach den Milchadern und ließen sich die Zähne der Kuh zeigen; diese interessierten sie augenscheinlich am meisten. Verwunderlich für uns war, daß der Kaufpreis nicht in Mark, sondern in Talern ausgehandelt wurde. War der Handel endlich durch Handschlag abgeschlossen, bekamen wir Kinder als Belohnung einen Groschens-Weck und durften im Cafe Weber einkehren.

Seit Generationen war der Markt nicht nur Umschlagplatz für »Kram und Vieh« sondern auch für Nachrichten. Als dann der Kreis Adenau nicht mehr bestand und Behördengänge mit dem Marktbesuch weniger verbunden werden konnten, blieben dennoch die alten Gewohnheiten, und es trafen sich dieselben Menschen aus dem alten Kreisgebiet. Der Austausch von Neuigkeiten und Gerüchten wurde im Kriege besonders lebhaft und begehrt. Je karger die Kramwaren, desto umfangreicher wurden die Nachrichten. Die Ferkel, Sensen und der Tabak, mit denen man sich in Adenau versorgte, verknappten mehr und mehr. Was den Tabak betraf, so war man im Laufe des Krieges zunehmend Selbstversorger geworden. Doch brauchten Anbau und Verarbeitung den Erfahrungsaustausch: Welche Blätter sind die besten, welche kann man nicht gebrauchen, wie müssen sie verarbeitet werden, was macht man mit den Stremp (Stengel)?