Tafel, Griffel, Tintenfaß

Die ersten Schuljahre in der einklassigen Wimbacher Dorfschule

Peter Richter

Erster Schultag

Ostern 1928 wurde ich in die einklassige katholische Volksschule in Wimbach eingeschult. Außer mir standen noch sechs Mädchen und drei Jungen verlegen bei ihren Müttern oder älteren Geschwistern, bis uns unsere neuen Plätze zugewiesen worden waren. Einige meiner neuen Jahrgangsgenossen kannte ich kaum. denn sie kamen aus dem Unterdorf und der Nachbargemeinde Kottenborn, und bis dahin reichte der Spielradius eines Sechsjährigen in der Regel noch nicht, zumal es ja auch keinen Kindergarten gab. in dem wir uns hätten kennenlernen können.

Bald aber wußte ich. wer von jetzt an zu meinem neuen Schuljahrgang gehören würde: Jödde Berta, Sallings Marie, Müllesch Jerta, Pohle Tilla, Essesch Marie, Schohmeche Gretje, Leise Alwis, Pohle Martin und Franze Jüpp. Ich war der Älteste, weil ich „verspillt“ hatte. Das Schuljahr begann damals nicht im Sommer, sondern jeweils nach den Osterferien. Ich war Ende 1921 geboren und wurde gemäß den geltenden Bestimmungen mit dem Geburtsjahrgang 1922 eingeschult.

Obwohl der neue Lebensabschnitt für uns zehn persönlich eine wichtige Sache war, machten Schule und Eltern nichts Besonderes daraus. Es gab weder Geschenke noch eine Tüte mit Süßigkeiten. Unter dem Arm trug ich eine Schiefertafel, eine hölzerne Griffelscheide und die „Kinderheimat“, das damals gebräuchliche Erstlesebuch. Einen „Schullesack“, wie der übliche Schulranzen bei uns hieß, hielten meine Eltern angesichts meines kurzen Schulweges für entbehrlich.

Tafel, Griffel, Tintenfaß

In der nächsten Zeit merkte ich. daß hinsichtlich der Schulutensilien einige Pflichten auf mich zukamen.

Die Schiefertafel und insbesondere der Rahmen aus rohem Buchenholz mußten jeden Samstag mit der Wurzelbürste geschrubbt werden. Durch eine Bohrung im Tafelrahmen hatte die Mutter ein Band gezogen, an dessen beiden Enden je ein Tafellappen angenäht war. Diese verschlissen bei dem täglichen Gebrauch recht schnell, und bald nähte ich mir von Zeit zu Zeit auf Mutters Nähmaschine aus einem alten Lappen eine Art Säckchen, in welches das alte zerfranste Läppchen hineinkam. So wurden die beiden Tafellappen mit der Zeit immer dikker, was ihre Funktionsfähigkeit aber zugute kam, denn sie sollten ja saugfähig sein. Auch die Tafelschnur machte ich mir später selbst, wenn die alte zerrissen und unbrauchbar war. Dazu nahm ich mir eine leere hölzerne Garnrolle und schlug an einem Ende rund um die Bohrung vier kleine Nägel, wie der Vater sie für seine Bienenrähmchen gebrauchte. Nun zog ich das Ende eines Strickgarnknäuels durch die Bohrung und wickelte es um die Nägelchen. Nach einer weiteren Wicklung wurden an jedem der kleinen Nägel mit Hilfe einer großen Stopfnadel die Teile der unteren über die obere Wicklung gehoben. So ging es immer weiter, und nach und nach konnte man aus der Holzrolle eine Schnur ziehen, die aus dem ineinander verhäkelten Garnfaden bestand. Wenn man dann auch noch verschiedene Farben gebrauchte, wurde die Tafelschnur besonders schön. Der eine Tafellappen mußte jeden Morgen vor der Schule angefeuchtet werden, damit man das Geschriebene wieder ausputzen konnte, der andere diente zum Trocknen der angefeuchteten Tafel.

In meiner hölzernen Griffelscheide befanden sich zwei Schiefergriffel, die jeden Tag mit dem Messer angespitzt werden mußten. Ich hatte nur eine einfache Scheide, und etwas neidisch schaute ich auf diejenige meines Bruders, der ein Jahr nach mir zur Schule kam. Sie war nämlich zweistöckig. Zum Öffnen konnte er nicht nur die hölzerne Zunge herausziehen, sondern danach auch noch den ganzen oberen Teil des Kastens drehen, so daß unten ein weiterer Behälter zur Verfügung stand. Neben den Griffeln brauchten wir im dritten und vierten Schuljahr noch einen hölzernen Federhalter und eine Stahlfeder, die man aufsetzen konnte. Während normalerweise bis zur Schulentlassung nur auf die Schiefertafel geschrieben wurde, gab es nun in der Mittelstufe auch ein Schönschreibheft. Einmal in der Woche war eine Schönschreibstunde angesetzt. Sie hatte zweierlei zum Ziel: Einmal sollten wir uns an das Schreiben mit Federhalter und Tinte gewöhnen, und zum anderen erlernten wir dabei die lateinische Schreibschrift. Sonst wurde ja nur die deutsche Schrift nach „Sütterlin“ gebraucht. Die Tinte befand sich in einem Porzel-lantöpfchen, das oben in der Platte der Schulbank eingelassen war und mit einem Schiebedeckel verschlossen werden konnte. Von Zeit zu Zeit mußten die Tintenfäßchen nachgefüllt werden. Wir nahmen sie heraus und gingen bankweise nach vorn, wo ein Mädchen des achten Schuljahres aus einem braunen Steingutkrug die Töpfchen nachfüllte. Selten ging es ohne Flecken auf Bank, Fußboden oder Kleidern ab, aber das nahm man damals nicht so genau. Insbesondere der Fußboden bestand ja nur aus groben Brettern, die zweimal im Jahr mit einem staubbindenden Öl gestrichen wurden. Der Boden mußte schon einiges aushallen. Wir Schüler trugen damals nur Schuhe, deren Ledersohlen mit Nägeln beschlagen waren. Der Absatz war mit einem Eisen versehen, das einem Pferdehufeisen ähnlich war. Die Schuhspitze war durch eine „Platt“ geschützt. Sie ähnelte dem flachen Eisen gleichen Namens, mit dem die Innenhufe der Kühe beschlagen waren, die als Zugtiere benutzt wurden.

Der Herr Lehrer

Jeden Montagmorgen kontrollierte der Lehrer, ob die Tafel sauber geschrubbt, einer der beiden Tafellappen angefeuchtet und mindestens zwei Griffel sorgfältig gespitzt waren. Anschließend mußten wirdie Ärmel hochstreifen, damit der Lehrer sich überzeugen konnte, ob nicht nur die Hände, sondern auch die Arme bis zu den Ellbogen sauber gewaschen waren. Da-

mals mußten die Lehrer ihre Aufgabe als Erzieher auch außerhalb des eigentlichen Unterrichtes wahrnehmen. Damit ihnen das möglich war, unterlagen sie der „Residenzpflicht“, das heißt sie mußten auch am Schulort wohnen. Als Schulkinder paßten wir beispielsweise gut auf, daß wir nicht nach Eintritt der Dunkelheit noch auf der Straße erwischt wurden. Und wenn das Spiel auch noch so schön war, beim abendlichen Glockenläuten sah man, daß man nach Hause kam. Mit Schulstrafen waren die Lehrer damals schnell bei der Hand. Das Übliche waren Schläge auf den Rücken. In schlimmeren Fällen gab es „Plötsche“. So nannten wir zwei oder gar vier Schläge mit einem dünnen Haselstöckchen auf die Innenfläche der Hände.

Als schlimmste Strafen aber empfanden die meisten Jungen Nachsitzen und Strafarbeiten. Sie dauerten länger an, während eine Ohrfeige eine Sache von wenigen Sekunden war. „Tausend weniger siebenundvierzig!“ Wenn man das hörte, wußte man, daß man von 1 000 die Zahl 47 so oft abzuziehen hatte, bis nichts mehr übrig war. Alles mußte auf der Tafel in einem sauber geschriebenen „Kästchen“ in einzelnen Gleichungen untereinander angeordnetwerden. und mit dieser Arbeit hatte man zu Hause schon eine Weile zu tun.

In die Organisationsformen einer einklassigen Landschule war man schnell hineingewachsen. Es gab in einem Klassenraum acht Jahrgänge. Weiter ging die Schulpflicht damals noch nicht. Man unterschied die Unterstufe (1. und 2. Schuljahr), die Mittelstufe (3. und 4. Schuljahr) sowie die Oberstufe (5. bis 8. Schuljahr). Für die einzelnen Schulfächer wurden Abteilungen gebildet. Die meisten gab es im Schulfach Rechnen. In den ersten vier Schuljahren bildete jeder Jahrgang eine Abteilung, da die mathematischen Grundlagen über eine stufenweise Erweiterung der Zahlenräume gelegt werden mußten. Das 5. und 6. Schuljahrwarzu einer Abteilung zusammengefaßt. Der Lehrplan sah hier die beiden Bruchrechnungsarten vor, und dabei war die Reihenfolge nicht so wichtig. Im ersten Jahr lernten beide Schuljahrgänge die gewöhnliche und im zweiten die Dezimalbruchrechnung. Ähnlich war es für die Abteilung, die das 7. und 8. Schuljahr umfaßte. Hier stand das bürgerliche Rechnen auf dem Plan, und dazu war die Reihenfolge der einzelnen Rechenarten auch nicht zwingend. So hatte der Lehrer in jeder Stunde im Fach Rechnen sechs Abteilungen zu fördern. Mit jeder konnteersich nurwenige Minutendirekt befassen, während die fünf anderen mit schriftlichen Übungen still beschäftigt werden mußten. In anderen Fächern war die Zahl der Abteilungen geringer. In der Regel wurden das 5. bis 8. Schuljahr sowie das 3. und 4. zusammengefaßt. Die Übungsarbeit für das 1. Schuljahr wurde auch häufig einem geeigneten Mädchen oder Jungen des 8. Schuljahres übertragen. Dazu wurden wir als „l-Dötzchen“ auf den Schul-flurgeschickt. Die 13-oder 14jährigen Mitschüler, die nun mit uns Lesen oder Rechnen übten, kamen uns sehr klug und erwachsen vor, und wir wagten kaum, irgendwelchen Unfug zu treiben.

Das Schulhaus

Unser Schulgebäude bestand aus einem großen Saal und einem breiten Flur mit vielen Kleiderhaken. Das Klassenzimmer war mit Vierer- und Sechserbänken möbliert. Nur so konnte man dort 70 bis 80 Kinder unterbringen. Vor den langen schrägen Tischplatten saß man aufKlappstühlchen, die drehbar an einem Balken befestigt waren. Jedesmal, wenn man eine Antwort gab, stand man auf, indem man den Sitz milden Kniekehlen nach hinten schob, was ein lautes Geräusch verursachte. Auch wenn jemand aus der Bank an die große Tafel mußte, hatten die Nachbarn aufzustehen, denn beim Sitzen konnte niemand vorbeigehen.

Vorne im Schulsaal war ein Podest und darauf erhöht befand sich das Lehrerpult. Links und rechts davon standen die großen Tafeln lose auf einem Holzgestell, so daß man sie auch umdrehen konnte. Hinter dem Lehrerpult war unter der Zimmerdecke ein breites Brett angebracht, an dem einige Landkarten aufgerollt in jeweils zwei Ösen hingen. Mit Schnüren konnte man sie herunterlassen und wieder hochziehen. Es gab je eine Karte des Kreises Adenau, der Rheinprovinz, des Deutschen Reiches sowie eine Weltkarte mit den beiden Erdhalbkugeln und eine Karte von Palästina zur Zeit Jesu. Eine Europakarte hing an der fensterlosen Seitenwand. Während langweiliger Stillbeschäftigungen sah ich mir sie immer wieder an und prägte mir Ländernamen, Städte und Flüsse ein. Sonstige Lehr- und Lernmittel gab es nicht allzu viele. Sie waren in zwei Schränken untergebracht, von denen einer in der Ecke des Schulsaales und der andere auf dem Schulflur stand. Selbst eine bescheidene Schülerbibliothek gab es in einem der Schränke. Sobald ich lesen konnte, lieh ich mir gern das eine oder andere Kinderbuch aus. Mein erstes Lieblingsbuch war von Sophie Reinheimer verfaßt und trug den langen Titel: Von Sonne, Regen, Schnee und Wind und anderen guten Freunden. Neben dem Schulschrank hinter den beiden Tafeln gab es noch einen Sandkasten und eine Russische Rechenmaschine. ÜberderTür hing ein Kruzifix, an der Fensterwand gab es ein Bild des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und an der rückwärtigen Wand eine Darstellung des Hermannsdenkmals von der Groten-burg bei Detmold. Den Wandschmuck vervollständigten „Professor Dr. Raschkes Tafel einheimischer Vögel“ und „Professor Dr. Raschkes Tafel einheimischer Schmetterlinge“ sowie eine Karte mit der Überschrift „Nürburgring -Der Welt größte Renn- und Prüfungsstrecke für Kraftfahrzeuge“.

Die „Heizung“

Das Interessanteste für uns Kinder aber war der mannshohe eiserne Säulenofen. Im Winter wurden Unmengen von Holz hineingeworfen, damit es in dem großen Schulsaal, in dem wir mit 73 Schulkindern saßen, auch warm wurde. Besonders im kalten Winter 1928/29 mußten diejenigen, die an der Fensterwand saßen, oft genug frieren. Dagegen mußten die Kinder, deren Bank in Ofennähe stand, durch einen großen Ofenschirm aus Eisenblech gegen die stechende Wärmestrahlung geschützt werden. Das Brennholz kam aus dem Gemeindewald. Dort wurden dicke Buchen mitderTrummsäge abgemacht und mit Hilfe von Äxten, Holz- und Eisenkeilen und einem schweren Hammer „gerissen“. Die so entstandenen Viertel- oder Achtelstämme wurden von einem Dorfbewohner, der diese Arbeit am billigsten anbot, auf einem Holzbock mit der Handsäge in etwa 40 Zentimeter lange Stücke geschnitten. Nachdem er sie noch mit der Axt gespalten hatte, lag ein Riesenberg von Holzstücken vorder Schultür, denn pro Winter brauchte die Schule gut 20 Raummeter Brennholz. Mit Korb und Seil wurden die Holzscheite schließlich durch ein Giebelfenster auf den Schulspeicher befördert.

Alle 14 Tage schickte der Lehrer zwei Jungen des 8. Schuljahres auf den Speicher. Sie mußten Holz durch ein Fenster hinunterwerfen. Es fiel dann genau vor den Eingang des Schulflures. Die Stücke mußten nun in den Flur getragen werden, wo sie gegenüber der Klassentür an der Wand säuberlich aufgelegt wurden. Dort konnte jeweils der Tagesbedarf entnommen und neben dem Schulofen gelagert werden. Alle diese Arbeiten wurden von Schulkindern besorgt, und man betrachtete es als Ehre, wenn man dazu eingeteilt wurde. Auch waren solche Handreichungen für uns ja viel interessanter als die vielen Stillbeschäftigungen, die der Schulbetrieb der Einklaßschule nun einmal mit sich brachte.

Familienalltag

Fast alle Familien im Dorf hatten damals Landwirtschaft. Für die meisten bedeutete sie nicht Nebenerwerb, sondern Existenzgrundlage. Da alles in Handarbeit gemacht wurde, war man auf die Mithilfe der Kinder angewiesen. So kam es häufig vor, daß man zum Lehrerging, um für ein Kind „frei zu holen“, weil es dringend bei der Feldarbeit oder zum Viehhüten gebraucht wurde. Aus heutiger Sicht waren die meisten Dorfbewohnersehrarm. Es fehlte nicht nur an Bargeld für Kleidung und sonstige Bedürfnisse, auch die Ernährung war meist recht einseitig. Als Hauptnahrungsmittel diente die Kartoffel. In vielen Familien gab es sie nicht nur mittags und abends, selbst das Frühstück bestand nicht selten aus einer Pfanne Bratkartoffeln, die mitten auf den Tisch gestellt wurde. Jedes Familienmitglied hatte eine Gabel und aß unmittelbar aus der Pfanne. „Der hat joot schwätze,“ sagte man, als ein junger Kaplan den Hausfrauen riet, etwas mehrAbwechslung bei den Mahlzeiten walten zu lassen. Er hatte nämlich beobachtet, daß die Mahlzeiten „an dem einen Tag aus Kartoffeln und Malzkaffee und am ändern aus Malzkaffee und Kartoffeln“ bestanden. Ich erinnere mich noch gut an einen alten Mann aus dem Dorf, der im Scherz zu sagen pflegte, er habe es beim Essen immer mit drei Kartoffeln gleichzeitig zu tun: „Een on de Maul, een op de Jaffel un een om Ooch.“

Die hier angedeutete Situation erlebten die Dortlehrer Tag für Tag, und sie befanden sich hinsichtlich der häufigen Wünsche nach Beurlaubung von Schulkindern in einer unangenehmen Lage. Einerseits sahen sie die Notlage der Leute andererseits kamen die Kinder in der Schule nicht mehr mit, wenn sie häufiger fehlten.

Neue Unterrichtszeiten

Schließlich glaubte die Schulbehörde, einen Ausweg gefunden zu haben: Die Kinder sollten an den sechs Werktagen der Woche von 8 bis 13 Uhr zur Schule kommen. Dann hatten sie nachmittags frei. Durch diese Regelung erreichte man, daß Anträge auf Befreiung vom Schulunterricht weniger häufig gestellt wurden. Als ich in die Schule kam, war es noch nicht lange her, daß diese „ungeteilte Unterrichtszeit“ eingeführt worden war. Das bedeutete, daß wir nur vormittags Unterricht hatten. Ursprünglich mußten die Kinder vormittags von 8 bis 12 und nachmittags von 14 bis 16 Uhr zur Schule kommen. Allerdings entfiel der Nachmittagsunterricht jeweils mittwochs und samstags.

Nach der neuen Regelung hatte die Schulwoche nun insgesamt 30 Stunden. Jede Schulstunde dauerte – anders als heute – 50 Minuten. Danach war eine Pause von 10 Minuten. Nach der 2. Stunde gab es eine Pause von 20 Minuten. Dies war aber nur ein grobes Ordnungsgerüst. Die meisten Einklaßlehrer unterrichteten nicht mit der Uhr in der Hand. Da es keine Schulklingel gab, wurden Stundenlänge und Pausenzeiten je nach den unterrichtlichen Gegebenheiten abgeändert. Unruhe bei den Schülern gab es deshalb nicht. Man kannte es nicht anders, und außerdem war die Taschenuhr des Lehrers die einzige Uhr. die es im ganzen Schulbereich gab.

Nur zweimal in der Woche und zwar beim Handarbeits- und beim Katechismusunterricht mußte der Lehrer bei der Zeiteinteilung Rücksicht auf Mitunterrichtende nehmen. Während er den Jungen zwei Stunden Sportunterricht erteilte, hatten die Mädchen bei einer Frau aus dem Dorf Handarbeit. Sie lernten bei „Franze Ev“ wie man Knöpfe annäht, Strümpfe strickt und Deckchen häkelt, also das, was die einfache und sparsame Lebensweise einer Eifeler Familie damals von Frauen und Mädchen erforderte.

„Sportunterricht“

Der Sportunterricht, der also nur den Jungen vorbehalten war, unterschied sich stark von dem, was heute bei den Leibesübungen in den Schulen üblich ist. Es gab weder eine Sporthalle noch einen Sportplatz. Auch unser kleiner, steinübersäter Schulhof war nur bedingt für diesen Unterricht geeignet. Immerhin aber standen dort zwei dicke Balken mit Einkerbungen, in die man eine hölzerne Reckstange einpassen konnte, die wir wegen ihrer Dicke kaum zu umfassen vermochten. An sonstigen Sportgeräten stand nur wenig zur Verfügung: Ein Seil zum Tauziehen, zwei Hochsprungständer mit einem Sprungseil, ein Bandmaß und lederne Schlagbälle. Bezeichnenderweise gab es keinen einzigen Fußball. Diesem Spiel stand die damalige Schulsportpädagogik noch sehr reserviert gegenüber, während wir Jungen in der Freizeit natürlich eifrig Fußball spielten. Der Turnunterricht, wie er damals offiziell hieß, bestand in der Hauptsache aus Ordnungsübungen, die man aus dem militärischen Bereich übernommen hatte, sowie aus Freiübungen, also gymnastischen Übungen ohne Gerät. Aber auch diese mußten einheitlich und synchron auf militärische Kommandos hin ausgeführt werden. Der 1. Weltkrieg war erst vor einem Jahrzehnt zu Ende gegangen und hatte neben der Politik noch in vielen anderen Bereichen des Lebens seine Nachwirkungen. In dieser Zeit wurden auch die „Reichsjugend-wettkämpfe“ in den Schulen eingeführt. Sie bestanden aus Kurzstreckenlauf, Weitsprung und Schlagballweitwurf. Werfen und Laufen konnte man auf Feldwegen oder Ödlandflächen. Für den Weitsprung wurde von den Schülern eine Grube ausgehoben und mit Laub und Fichtennadeln gefüllt. Wer bei diesen Wettkämpfen 40 Punkte erreicht hatte, bekam eine Urkunde mit dem Namenszug des Reichspräsidenten von Hindenburg, auf die er sehr stolz war.

Katechismusunterricht

Das zweite Fach neben der Handarbeit der Mädchen, das der Lehrer nicht selbst erteilte, war der Katechismusunterricht. Für das Fach Religion waren insgesamt vier Wochenstunden angesetzt. Während zwei Stunden in Biblischer Geschichte vom Lehrer erteilt wurden, mußten die Ortsgeistlichen zwei Stunden Katechismusunterricht übernehmen. Unser Dorf gehörte zur Pfarrei Adenau. Dort gab es neben dem langjährigen Dechanten Anton Hammes noch zwei Kapläne, die häufiger wechselten. Einer davon war für die Filialen Leimbach und Wimbach zuständig. Jeden Sonntag gingen wir zu Fußindiedrei Kilometerentfernte Adenauer Pfarrkirche, wobei wir die Auswahl zwischen der „Fröhmeß“ um sechs Uhr, der „Aach-Aue-Meß“ und der „Huhmeß“ um zehn Uhr hatten. Dienstags aber kam „ose Kapion“ herauf, um in unserer Dorfkapelle eine Wochenmesse zu lesen. Anschließend erteilte er in der Schule die beiden Katechismusstunden. Ab dem 3. Schuljahr nahm man daran teil. Grundlage dieses Unterrichtes war ein kleines Buch, dessen Deckel einen grünen Stoffüberzug hatte. Es hieß „Kleiner katholischer Katechismus“. Die Glaubensinhalte waren in Form von Fragen und Antworten dargestellt. Zur näheren Erläuterung gab es dazwischen noch das „Großgedruckte“ und das „Kleingedruckte“. Als Hausaufgabe mußten wir die im Unterricht besprochenen Fragen auswendig lernen, das Groß-und Kleingedruckte sollten wir „gut durchlesen“. Auch die Geistlichen standen natürlich vor den gleichen Problemen wie die Lehrer der einklassigen Volksschulen. Sie mußten versuchen, den Unterricht so zu gestalten, daß sowohl die Achtjährigen als auch die Vierzehnjährigen etwas davon hatten. Manche Kapläne versuchten es mit Strenge, andere lockerten den Unterricht mit allerlei Scherzen auf. So erinnere ich mich an den Kaplan Anton Rose, der von Zeit zu Zeit die „Erstürmung der Düppeler Schanzen“ mit uns einübte. Das war eine Prozedur, die dem Steigenlassen einer Rakete bei Karnevalssitzungen ähnelte. Sie beruhte auf einem Ereignis aus dem Krieg der Preußen gegen die Dänen von 1864, das damals noch jedem bekannt war. Schließlich lebten ja noch Veteranen, die diesen Feldzug mitgemacht hatten. Solche Unterbrechungen des Unterrichtes waren gerade uns jüngeren sehr willkommen, denn vieles haben wir nicht gleich verstanden. Aber wir lernten auch Unverstandenes auswendig, und die Einsicht stellte sich dann später doch noch ein. Die erste Katechismusfrage, die ich lernen mußte, ist mir noch heute geläufig: „Was bewirkt die helfende Gnade? Gott erleuchtet durch die helfende Gnade unsern Verstand und bewegt unsern Willen, daß wir das Böse meiden und das Gute tun.“

Wenn ich mich nach 60 Jahren noch an jedes Wort erinnere, so mag man daran erkennen, welche Bedeutung das Memorieren im damaligen Unterricht hatte. Auch in anderen Fächern mußten wir ja viel auswendig lernen: Bibellektionen, Gedichte, orthographische und mathematische Regeln sowie kirchliche und weltliche Liedtexte wurden als Hausaufgaben aufgegeben. Der Kern aller häuslichen Aufgaben aber waren Schreibübungen auf der Schiefertafel. „Häsde ad jeschriwwe?“ fragten die Eltern abends, wenn sie wissen wollten, ob ihre Kinder auch die Hausaufgaben erledigt hätten.

„Latein“ für Meßdiener

Für einige von uns Jungen gab es im 3. Schuljahr noch etwas Zusätzliches zu lernen, weil wir Meßdiener werden wollten. Zu dieser Zeit wurde die Messe noch ausschließlich in lateinischer Sprache gelesen.

Die lateinischen Texte lernten wir aus dem Anhang des Katechismus. Sie waren allein schon deshalb für uns schwierig, weil sie in lateinischer Schrift gedruckt waren. Unsere Schulbücher aber waren alle in Fraktur, also der „deutschen“ Druckschrift geschrieben. Nur „Das Goldene Tor“, unser Lesebuch für das 3. und 4. Schuljahr, enthielt einige wenige Lesestücke in lateinischer Schrift. Das reichte zwar, um diese zu erlernen, aber so richtig vertraut wurde sie uns nicht. So war ich froh, als mir jemand während der Meßdiener-Vorbereitungszeit ein Büchlein schenkte, das die lateinischen Antworten in deutscher Schrift enthielt.

So verlief damals für uns alles in festen Formen und Ordnungen, im Gottesdienst genauso wie im Schulunterricht und im überschaubaren Leben eines kleinen Eifeldorfes. Ablenkungen gab es kaum, kein Fernsehen, wenig Gedrucktes, das Radio steckte noch in den Kinderschuhen.

Der Umfang dessen, was wir in der Schule und im täglichen Leben zu lernen hatten, war vergleichsweise gering. Dafür drang das Gelernte in tiefere Bewußtseinsschichten ein. Es blieb nicht nur an der Oberfläche haften und wurde deshalb auch nicht so schnell vergessen. Niemand kann sich heute vernünftigerweise die einklassige Volksschule zurückwünschen. In Organisation und Erscheinungsform würde sie nicht mehr in die heutige Zeit passen, und sie könnte auch den heutigen beruflichen und kulturellen Anforderungen nicht mehr gerecht werden.

Aber sie war auch nicht so schlecht, wie manche sie heute sehen, wenn sie verächtlich von der „Zwergschule“ sprechen. Sie hat zwar weniger Wissen vermittelt, aber mehr Erziehungsarbeit geleistet. Ihre Integrations- und Innovationsfähigkeit für eine dörfliche Kultur sollte man nicht übersehen in einer Zeit. in der viele Dörfer nur noch Schlafstätten für Pendler und Vororte für die durch das Auto nähergerückte Stadt sind. Ich erinnere mich gern und mit Dankbarkeit der alten Dorfschule. Sie hat für uns Ältere solide Grundlagen gelegt, auf denen jeder aufbauen konnte, der guten Willens war.