Die Wanderer

Die Wanderer

Ernst-Edmund Keil

Wann sterben sie aus? Das sei eine Frage, dachte er, von nur noch wenigen Jahren. Greenpeace sollte sich um sie kümmern, vielleicht würde dann, was doch ganz unaufhaltsam, etwas langsamer zu Ende gehen. Vielleicht.

In der Tat: Immer seltener tauchten sie auf, belächelt von vorbeieilenden, nur kurz aufblikkenden Passanten an Kreuzungen der Peripherie. Diese, weil in Rudeln auftretend, den Verkehr vorübergehend blockierenden, mit Anoraks, halbhohen Schnürstiefeln. Cordhosen oder noch mit altertümlichen Knickerbockers, teils mit Stock, teils mit Mütze ausgerüsteten, meist schon stark ergrauten oder gar nicht mehr behaarten Wandersleute. Von dort stiefelten sie die steilen Hänge hinauf durch die Weinberge, wo sie vereinzelt auf rebenstutzende Winzer stießen, die den Weg herauf in ihrem Mercedes zurückgelegt hatten, und durch den morastigen Niederwald, wo sie nicht einmal einem Förster begegneten, und in die tiefeingeschnittenen Täler hinab, durch die das wenig wasserführende Flüßchen mit Forellen und Enten mäanderte. Dies stundenlang und selten pausierend, mit rüstigem Schritt, trotz ihres meist schon sehr fortgeschrittenen Alters. Als suchten sie etwas, was sie dort vor langer Zeit verloren hatten, etwas Unwiederbringliches, das sie doch immer noch schmerzlich vermißten und entbehrten. Weshalb sie eben nach wie vor taten, was sie früher schon wöchentlich mit schöner Regelmäßigkeit getan hatten und worauf sie, auch aus tiefsitzender Gewohnheit, nicht verzichten konnten und wollten. Sie waren die Letzten. Und ihre Zweier- und Dreierreihen lichteten sich immer schneller, um diejenigen, die sich zu Hause hinlegten, schweratmend, sich nicht mehr erhoben und unter die Mutter Erde, die sie ein Leben lang ruhlos bewandert hatten, gebettet wurden zur endlichen Ruhe.

Die Jüngeren, also Söhne und Enkel, schlössen sich ihnen nicht an, weil sie’s nicht gewohnt waren und auch keinen Sinn darin sahen. Sie hatten sich auf Maschinen eingelassen, auf Zwei-, Viertakter und Turbolader, die sie schneller transportierten von einem Ort zum ändern, ja, er fragte sich: War es überhaupt noch ein bestimmter Weg, der ihnen Freude bereitete, oder war es nicht vielmehr die Maschine selbst und ihre Bedienung, das pure Abenteuer der chromblitzendenTechnik, das ihnen schon längst die anachronistische Wanderlust der Alten ersetzte? Die Landschaft, welche diese von Baum zu Baum erwanderten, wurde für jene eine rasch bewegte Bildfolge, die seitlich an ihren Schutzbrillen unterm Sturzhelm, fast unbeachtet, als grüngemusterte Einheitstapete vorüberglitt und die selten zum Verweilen einlud, und wenn einmal, dann doch nicht wegen ihres jahreszeitlichen Musters, sondern wegen einer das Muster unterbrechenden Raststätte mit Zapfsäule für Fahrer und Gefährt.

Die Alten indes legten nur ungern, eingedenk ihres zunehmenden Alters und der damit sich mehrenden Schwächen, eine Rast ein, höchstens einmal vor einer mit Reisig notdürftig gedeckten Hütte, die sonst Unterschlupf vor den Unbilden der rauhen Witterung gewährte. Oder voreiner vergessenen Waldkapelle an der Wegkreuzung, um sich eine schnelle Atempause zu vergönnen oder kurz eines Längstdahingegangenen, der diese gestiftet hatte oder dem jene in Dankbarkeit geweint oder gewidmet worden war, mit zwischen längeren Atemstößen geäußerten Worten zu gedenken. Bevor sie ihren langen Weg durch Wald und Dickicht, über Grasnarbe, Forstpfad oder Schotter fortsetzten auf der Suche nach dem unwiederbringlich Verlorenen.

Sie waren die letzten Trapper und Fährtenleser, die Pilze wiederentdeckten und wandernde Kröten. die noch Gräser, Farne, Blumen. Bäume und Kleintiere benennen konnten und, indem sie dies taten, wie mit Zauberworten für glückliehe Augenblicke der Erinnerung märchenhafte Zeiten zurückriefen. Welten, in denen sie einmal gelebt, als es noch keine oder wenige Maschinen gab, die Fluren nicht eingeebnet und bereinigt, die Wälder und Bäche nicht verseucht und zerstört waren: Zeltender Kindheit und Jugend, in denen sie noch Jäger und Sammler waren. Und mit welchem Feuereifer hatten sie Tiere gejagt und Pflanzen gesammelt, wie heilig waren ihnen Bäume gewesen und Höhlen! Das Leben ein atemloses Spiel, ein nichtendendes Abenteuer, eine unsägliche Lust. Ja, sie erinnerten sich, jeder für sich und einer für den anderen, weshalb sie noch gerne in Rudeln und Reihen gingen, weil sie sich so besser, wie auf des Freundes gebeugte Schulter, auf dessen Erinnerung stützen konnten. Weißt du noch?

Das waren Zeiten, nicht wahr? Tage und Stunden, die, erinnernd, zurückgeholt werden, stückweise, wie man Scherben für eine Sammlung zusammenträgt, in der frommen und doch so vergeblichen Hoffnung, daß diese Stücke sich noch einmal zu einem heilen und lebendigen Ganzen zusammenfügen lassen. Aber auch die Bruchstücke sind schön und glänzen an ihren Rändern.

Und darum auch gehen sie hinaus, zu jeder Jahreszeit und Witterung, und lassen sich durch keine Versuchung der mit Unterhaltung und Bequemlichkeit jederArt und Klasse aufwartenden Maschinenwelt von ihren oft beschwerlichen Wanderungen zurückhalten. Sie wollen’s nicht anders und auch nicht bequemer, und sie wissen sehr wohl. wieso und warum.