Heimat

Immer, wenn ich von der Autobahn kommend, nach Bad Neuenahr abbiege, freue ich mich auf den Anblick des Ahrtales – meine jetzige Heimat. Alles ist mir schon vertraut: das weiße Dreieck der Kapelle auf der Landskron, der Neuenahrer Berg, die Wälder und die Weinberge. Einige liebe Menschen habe ich auch schon kennengelernt, mit denen mich manche Gemeinsamkeiten verbinden.

„Einen alten Baum soll man nicht verpflanzen“, heißt es im Volksmund. Das kann ich auch bestätigen. Es hat schon einige Zeit gedauert, bis ich hier heimisch wurde. Erst als die Eltern starben und meine eigene Familie sich in der Welt einen neuen Lebensraum schaffte, wurden Haus und Hof zu groß, und ich fühlte mich nicht mehr geborgen. Ich wurde heimatlos inmitten der vertrauten Umgebung. In allen Winkeln nisteten die Erinnerungen und schauten mir abends beim Alleinsein zu. Nur der Garten hielt mich mit allen Fasern fest. Aus einem unfruchtbaren Acker hatte ich ein kleines Paradies geschaffen. Die Bäume und Sträucher waren als Winzlinge gesetzt worden und hatten durch sorgsame Pflege und gutes Zureden manche Kälte- und Dürreperioden überstanden. Jetzt waren sie groß und stark – nach fünfundzwanzig Jahren – und dankten mit ihrem Blühen und spendeten Schatten und Ruhe.

Nach einigen Jahren machte ich noch einmal einen Abstecher in die ehemalige Heimat. Ich fand meinen Garten nicht mehrwieder. Auf dem 5.000 qm Land waren mehrere Häuser entstanden. Alles war gerodet, die Bäume und Sträucher, die früher vielen Vogelarten Schutz und Nahrung boten, alle abgeholzt.

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Blick von der Landskrone auf Bad Neuenahr-Ahrweiler (1996).

Daß Leben Veränderung beinhaltet ist natürlich, sonst stagniert alles. So muß der Mensch immer zum Neubeginn bereit sein, das gelingt am besten in einer völlig neuen Umgebung, wo die Erinnerungen nicht wie „Blei an den Füßen“ hängen. Deshalb habe ich meine Wurzeln bewußt in die sonnenbegünstigte Erde des Ahrtals gesenkt. Es ist nicht mehr der Wurzelballen der Linde vor meinem Vaterhaus, aber kleine Wurzeln lösen sich auch leichter und lassen den Boden los, wenn die Zeit gekommen ist, um in die wirkliche Heimat zu gehen. Bis dahin werde ich hier blühen und gedeihen, die Früchte können meine Nachkommen dann ernten. 

Was bedeutet in der Erinnerung das Wort „Hei-mat“für mich?-War es das Haus, in dem ich das Licht der Welt entdeckte, war es das Elternhaus, das mir Geborgenheit und Schutz bot, waren es die Menschen, die mir beim Erwachsenwerden halfen, oder war es die Familie, für die ich auch Heimat war? – 

Heute beinhaltet der Begriff „Heimat“ den Ort, wo noch ein Mensch lebt, der sich freut, daß es mich gibt und es auch zeigt. – 

Von meiner kleinen Wohnung aus sehe ich in einen großen Garten mit hohen Tannen und Obstbäumen, in denen viele Eichhörnchen und Vögel leben und Nahrung finden. Für diesen Ausblick bin ich besonders dankbar, und es erleichterte mir auch die Eingewöhnung. Was auch in der turbulenten Welt draußen geschieht, sie kann die Harmonie meines Refugiums nicht zerstören. Wenn die Zeit kommt, da der müde gewordene Körper die Waldspaziergänge nicht mehr zuläßt, wandere ich in Gedanken die alten, vertrauten Wege, die ich mit speziellen Eigennamen bedacht habe: die Schafswiese mit ihren sanftgeschwungenden Tälern und Hügeln, immer im Blickfeld der sagenumwobenen „Burgruine Olbrück“. Den Heideweg mit seinen Birken und Wachholderbüschen liebe ich besonders; jeder Strauch ist mir dort vertraut, seitdem ich tagelang meine Lesebrille dort gesucht habe und verloren glaubte. Nachher fand sie sich zum Glück in einer wenig getragenen Jackentasche wieder, oder die Wespenbank, die wir fluchtartig verlassen mußten, nachdem ich einen Becher mit Obstsaft verschüttet hatte. So viele Erinnerungen, so viele Menschen. An ihre Gespräche denke ich noch oft und auch an das Schweigen, wenn wir bewundernd auf eine seltene Waldblume hinwiesen, die Heilkräuter mit Namen nennen konnten, einen seltsam geformten Stein vom Boden aufhoben oder den Vogelstimmen zuhörten. Immer kamen wir dankbar und angefüllt mit neuen Kräften von diesen Waldgängen nach Hause. 

In der Erinnerung werde ich immer noch das Moos unter meinen Füßen spüren, die Wärme eines Sommertages auf der Haut fühlen, den strengen Geruch der Pilze und des vermodernden Laubes im Herbst riechen, wenn ich in die Heimat meiner Seele hinuntersteige.