„Kräuterbäb“ – Eine Weihnachtsgeschichte aus der Eifel

Wintertag

Seit Tagen fiel der Schnee auf das kleine Eifeldorf, auf kahle Felder und die dunklen, großen Wälder. Alles, Häuser, Hecken, Bäume, Straßen waren bald eingehüllt vom dichtgewebten weißen Tuch einer glitzernden Schneedecke. Von schweren grauen Wolken war der Himmel bedeckt; nur westwärts über der Hügelkette blieb ein türkisfarbener Streif sichtbar, der gegen Abend überging in ein verwaschenes Rot, das den Saum der Wälder für Augenblicke in fremdartigem Licht erglühen ließ. „Et Christkendche ös am Plätzje backe“, riefen die Kinder und sie freuten sich auf das kommende Christfest. „Es wird eine weiße Eifelweihnacht sein“, sagte der Dorfpfarrer im warmen Pastorat und setzte sich mit seinem Glas Punsch an den Kachelofen. „Der hundertjährige Kalender hat einen langen, eisigen Winter prophezeit“, meinte seine Schwester, die ihm in der Abgeschiedenheit und Weltferne des Dorfes den Haushalt führte und die sich heimlich zurücksehnte in die schöne alte Stadt mit den vier Toren, der Stadtmauer, den Fachwerkhäusern, der gotischen Hallenkirche und den schmalen Gassen. „Mein Gott, wie dunkel es doch hier oben ist“, seufzte sie; „da draußen kann man nicht die Hand vor den Augen sehen!“ „Ja“, meinte der Bruder, „im Winter sind wir hier oben in der Vulkaneifel wie Verbannte, eingeschneit, abgeschnitten von Leben und Trubel der Stadt.“- Und er nahm sein Ideenbüchlein, in das er treffende Gedanken und Stichworte für seine Sonntagspredigt eintrug. Diesmal – so nahm er sich vor – wollte er in seiner Weihnachtspredigt über Gegebenheiten sprechen, die das Geschehen der Heiligen Nacht wie eine Klammer umgaben: dass nur aus tiefer Stille heraus ein Wohlklang von Schalmeien und Engelschören beim Gloria in Exelsis zu vernehmen sei. Und ferner, dass nur aus lastender Dunkelheit und Finsternis das Aufleuchten des großen Sternes, Lichterströme aus Himmelshöhen zu erfassen seien. Und weiter notierte er, wie sich Einsamkeit und Stille wandelten in Bewegtheit und überirdische Klänge, in wundersame Melodien wie sie kein menschliches Ohr je vernommen.

Einsamkeit und Stille 

Doch, um Dunkelheit, Stille und Einsamkeit zu empfinden brauchte man nicht erst zu den ach so weit entfernten Fluren Bethlehems zu pilgern.

Im Eifeldörfchen gab es eine Stelle, wo diese drei Gefährten zuhause waren: im windschiefen Fachwerkhäuschen der alten Kräutersammlerin Barbara Leyendecker, im Dorf und der ganzen Gegend nur „dat Kräuterbäb“ genannt. Hier, abseits vom Dorf, am Beginn eines Hohlweges lagen Häuschen, Stall, Scheune und Kräutergarten der alten Frau. Ein Schäferhund bewachte das Anwesen; im Stall zerrten drei Ziegen – knochiges, eigenwilliges Viehzeug – an der Kette. Daneben, im Hühnerstall, hauste das Federvieh in steter Furcht vor Murr, dem alten Kater, den Bäb manchmal in einen Käfig sperrte. Jeden Tag redete sie mit ihrem Vieh, nannte alle beim Namen und stets gab es darauf ein Gegacker, Ziegenmeckern, Hundegebell und Hahnenschrei. Da hätte bei solcher Zwiesprache zwischen Kräuterbäb und ihren Kreaturen sogar der Heilige Franziskus seine stille Freude gehabt, der, wie man weiß, sogar stumme Fische zum Reden brachte. Immer, wenn die Bäb der Stille überdrüssig wurde, wenn Lautlosigkeit in ihren Ohren zu rauschen begann, vollzog sie ein kleines Ritual. Sie deckte den großen Holzkäfig, der in einer Ecke ihrer niedrigen Stube stand, auf; es war das Gittergehege, in dem Jakob, der sprechende Rabe hauste. Dann redete Bäb mit dem Schwarzrock, der gegen die Käfigstäbe pickte und mit gutturalen Lauten unermüdlich Wörter und Sprüchlein hersagte, die seine Herrin ihm beigebracht hatte. „Guten Tag, guten Abend, willkommen!“, rief er immer wieder und als Höhepunkt seines Wortschatzes krächzte er „Frohe Weihnacht!“ „Still jetzt, Schluss!“, rief die Bäb ihm zu „Et öß noch zo früh für et Chrestfest“, und sie drohte dem Schreihals mit dem Finger und siehe da – der Rabe schwieg!

Schätze

Im Stübchen hinter der Küche aber lagen, standen und hingen die Schätze und die Geheimnisse der alten Kräuterbäb: all die mühsam im Sommer und im Herbst gesammelten Heilkräuter, die Blüten, Blätter und Wurzeln von Blumen und Sträuchern. Alles war hier beisammen, gestapelt, von kundiger Hand geordnet, das Heilkräfte besaß, alles, das bei Krankheiten und langwierigen Leiden helfen und heilen konnte. Auf Regalen standen die Gläser mit giftigen Substanzen, sorgfältig verwahrt, mit Zettelchen versehen und mit exakter Sütterlinschrift bezeichnet. Sogar der alte Apotheker aus dem Städtchen im Tal besuchte die Bäb hin und wieder, kaufte ihr besonders seltene, wirksame Heilkräuter ab. Dass die Bäb in den Jahren ihrer Einsamkeit ein wenig menschenscheu und ängstlich geworden war – wen sollte dies verwundern. Und so schloss sie auch an diesem eisigkalten dunklen Wintertag ihre Doppeltür ab, schob noch zwei schwere Eisenriegel vor. Aber, wer sollte wohl in dieser Nacht bei Kälte, Stürmen und Dunkelheit den Weg finden zum einsamen Gehöft der Kräuterfrau, jetzt, wo der Hohlweg bereits von mächtigen Schneewehen bedeckt war? Bäb schloss die Fensterläden, legte Buchenscheite nach in den Kaiser-Wilhelm-Ofen, gusseisernes Prachtstück, dessen Haube von einem Adler verziert war. Der spreizte seine Eisenflügel, als wollte er davonfliegen, fort aus der Enge der Stube. Bäb schlürfte ihren Haustee, dessen Ingredienzien ihr Geheimnis blieben, putzte den Lampendocht und schlug ihr uraltes, dickes Kräuterbuch auf. Da war nun alles verzeichnet, in Farbe abgebildet und umständlich beschrieben, das in der Hierarchie der heilenden Kräuter und Gewächse Bedeutung aufwies: Rosskastanienrinde gegen Krampfadern und das Gliederreißen, Holundersäfte gegen Grippe und Heiserkeit, Hagebutten bei Nierenweh und Magenkrämpfen, Brennesseln zur Blutreinigung, Borretsch gegen Herzrasen, gegen den Husten Salbei, Thymian gegen Krämpfe, Paeonienrosen, Gichtwurz, Benedicterosen, Venedischrosen, Pfingstrosen viele Namen für eine Heilpflanze, die Bäb besonders schätzte. Und sie las im alten Folianten: „Galenus schreibet, dass als lang ein Kind der Fallendtsucht erlediget ward, wann die Wurtzel von Pfingstrosen nit an ihm hienge, ward es bald wieder kranck.“ – So viele Heilkräuter, Tinkturen, Tee, Salben, Ingredienzien – doch- sich selber konnte die Bäb nicht helfen. Gegen ihr Leiden war kein Kräutlein gewachsen, gegen den Seelenschmerz an dem sie litt, seitdem die einzige Tochter nach langem, heftigem Streit das Haus verließ und in die ferne Stadt gezogen war. Drei Jahre war das schon her und Bäb wartete vergebens auf ein Lebenszeichen. Sie selbst verschloss sich immer mehr der mahnenden inneren Stimme, konnte ihn nicht tun, den ersten Schritt zu Versöhnung und Friedenstiften.

Seltsamer Gast

Und während sie nachgrübelte und spürte, dass sich die Verhärtung ihres Herzens nicht lösen wollte, vernahm sie da draußen ein eigenartiges Geräusch. Es hörte sich an, als kratze jemand an den Fensterläden; dann, nach einer Weile, an der Tür. Seltsam, dass der Hund nicht einmal bellte, ihr Wächter, auf den sie sich immer verlassen konnte. Da! Wieder dieses Geräusch; jetzt ein zaghaftes Klopfen. Bäb erschrak. Wer sollte wohl in dieser Winternacht den Weg finden hierher zu ihr? Ob jemand im Dorf erkrankt war, ein Kind vielleicht, das Hilfe brauchte? Bäb ging zur Tür, löste die Riegel, ließ nur einen schmalen Spalt offen und staunte. Im Schein der Lampe sah sie da draußen einen alten Mann zitternd stehen. Die Gestalt war in ein bräunliches, zerschlissenes Leinentuch gehüllt, so, wie die Menschen in längst vergangenen Zeiten gekleidet waren. Gebückt stand der Fremdling da auf der Treppe, mit eigentümlich gewölbtem Rücken. „Mein Gott“, dachte Bäb, „der Arme, er ist sicher krank.“ Und in einer Aufwallung plötzlichen Mitleids öffnete sie die die Türe und ließ den Bettelmann ins Haus. Der freilich war vor Kälte wie erstarrt, dankte leise für die freundliche Aufnahme, ging zögernd zum warmen Ofen und rieb seine starren Hände. „Seltsam“, dachte die Bäb, „es ist doch ein alter, gebeugter Mann, was der nur für schöne Hände hat, langfingerig, zart, mit einer fast durchsichtigen Haut. Und erst sein Antlitz! Keine Falten, dunkle Locken fallen ihm ins Gesicht, aus dem die Augen geradezu leuchten.“ Bäb bekam es mit der Angst zu tun. Wen hatte sie da mitten in der Nacht vor dem Christfest in ihr Haus gelassen! Doch sie zügelte Ängstlichkeit und Neugierde, setzte dem Halberfrorenen erst einmal eine große Tasse heißen Kräutertees vor. Als der fremde Gast getrunken und sich gewärmt hatte, zog er aus den Falten seines Gewandes eine kleine blaue Kerze, stelle sie in die Mitte des Tisches und entzündete sie. Bäb kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der unscheinbare Kerzenstumpf gab einen wunderbaren Lichtschein von sich, der die ärmliche Stube erfüllte und den Dingen einen sonderbaren fremden Glanz verlieh. Die Alte wusste nicht wie ihr geschah! Mit offenem Mund saß sie da, konnte sich nicht sattsehen am warmen, goldenen Lichtschein, der die karge Stube verwandelte. Endlich fasste sich die Kräuterfrau ein Herz und fragte ihren nächtlichen Gast:“Wer bist du – und wo kommst du her?“ „Von weit komme ich her, bin einen langen Weg gegangen; durch Nacht und Kälte bin ich gelaufen, bis ich dein Haus endlich gefunden habe“, entgegnete der Fremde. „Aber, wo bist du zuhause?“, wollte die Bäb wissen, „deine Sprache hört sich fast so an wie die unsrige, so, als ob du von hier wärest.“ „Wo ich herkomme“, entgegnete der Fremde, „da spricht man alle Sprachen dieser Welt, auch euer Eifler Platt.’“ Und lächelnd, wie zur Bekräftigung fügte er hinzu:“Un ech mohs soohn, dat et en besunners schöne Sprooch ös; me föhlt sech ömmer doheem, wenn me datt schwätzt onn hüet!“ Bäb kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Fremde aß vom Weihnachtshefezopf, trank Tee, hob seinen schönen Kopf, so dass der Lichtschein ihn voll erfasste. Seine Augen begannen zu leuchten und er sprach – als ob dies die verständlichste Sache der Welt sei: „Erschrick nicht, ich komme geradewegs her von den Fluren Bethlehems, von Hirten, Engeln, Stall und Krippe und ich bringe dir Licht in deine Dunkelheit, schenke dir Erleuchtung, Freude und Hoffnung.“ „Aber“, rief die Bäb, die als echte Eiflerin allem Fremden gegenüber vorerst recht misstrauisch blieb, „aber“, wagte sie den Einwand, „das, wovon du sprichst ist doch schon zweitausend Jahre her!“ „Zeit spielt für uns keine Rolle; wir sind ihr nicht unterworfen“, sagte der Gast. „Weißt du denn nicht, dass sich das Wunder von Bethlehem jedes Jahr auf wunderbare Weise wiederholt?“ Ob das ein Engel ist, dachte Bäb. „Aber“, rief sie, „du siehst ja gar nicht aus wie ein Engel. Unsere Engel in der Dorfkirche sehen ganz anders aus mit ihren großen goldenen Flügeln.“ Doch während sie das sagte geschah etwas Sonderbares: der gewölbte, gekrümmte Rücken des alten Mannes begann sich unter dem linnenen Armeleutegewand zu dehnen und es wurden die Spitzen zweier Flügel sichtbar, die im Kerzenlicht schimmerten wie Gold. Und während Kräuterbäb noch wie erstarrt auf das Unerklärliche blickte, ihre Augen nicht lösen konnte von Glanz und Erscheinung, erhob sich der Fremde, wandte sich an der Türe noch einmal um und sprach mit leiser Stimme: „Vergiss nicht, dass Christnacht ein Fest des Friedens und der Versöhnung ist, Barbara, denk daran!« Dann war er mit einer segnenden Geste in der Dunkelheit der Winternacht verschwunden.

Epilog

Am Weihnachtsmorgen betrachtete Bäb den blauen Kerzenstumpf, drehte und wendete ihn nach allen Seiten, ohne etwas Besonderes entdecken zu können. Der Stumpf sah aus wie alle Kerzen; nur der schwarze Docht wurde von einer gläsernen Schicht umschlossen, die sich nicht lösen ließ. Draußen vor der Tür fand Bäb Fußstapfen im harschen Schnee. Seltsamerweise waren sie klein, so, als stammten sie von einem Kinderfüßchen. Auf der Treppe lagen verstreute Federn und zu ihrer Enttäuschung sah Bäb, dass nicht die Spur von Gold daran zu entdecken war. Nein! Es waren ganz gewöhnliche Vogelfedern. Sie ähnelten den Schwungfedern großer Waldtauben, doch über ihnen lag ein Glanz von Seide und Brokat. Bäb sprach mit niemandem über ihr geheimnisvolles nächtliches Erlebnis, diese unerklärliche Begebenheit in der Nacht vor dem Christfest. Sie trug ihre Erinnerung an die wunderbare Begegnung in ihrem Inneren wie einen kostbaren Schatz, den man hüten muss, der nur ihr allein gehörte, wenngleich das Bild der Erscheinung im Laufe der Jahre mehr und mehr verblasste. Doch die Friedensmahnung des Mannes mit den Goldflügeln im Armeleutegewand zeigte Wirkung. Bäb versöhnte sich mit ihrer Tochter, holte sie mit ihrem Kind zurück in ihr Haus. Und je älter sie wurde in ihrem windschiefen Kräuterhaus, desto mehr glaubte sie, dass alles nur ein wunderschöner Traum gewesen sei, eine Botschaft freilich von strahlendem, unvergänglichem Licht. Ein Leuchten, das Tröstungen brachte in ihre Dunkelheit und das fortan ihr Dasein mit einer tiefen, stillen Freude erfüllte.