20 Jahre Hadamar-Projekt am Peter-Joerres-Gymnasium (PJG)
Schule kooperiert mit Dr. Christoph Smolenski – Euthanasie: Der NS-Staat organisierte die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“
Bernd Schmidt
Ich war sehr schockiert und gerührt dort an diesem Ort. Man konnte sich in diese Personen sehr gut hineinversetzen und ich habe so auch begriffen, dass die Menschen bis zu ihrer Ermordung nicht wussten, was mit ihnen tatsächlich passieren sollte. Vor allem hat es mich sehr berührt, wie perfekt ein solch schrecklicher Massenmord geplant worden ist, und man noch versucht hat, aus den Toten Geld zu machen, d.h. dass man die Menschen selbst nach ihrem Tod noch immer nicht mit Respekt behandelt hat.“ In einer anderen schriftlichen Äußerung steht: „Als es runter in den Keller ging, wurde einem etwas mulmig zumute. Man weiß genau, dass vor vielen Jahren genau an diesem Ort Menschen gequält, über den Boden gezogen und getötet wurden. Man hat diese Situation nachempfinden können.“ Ein weiterer schreibt: „Es war eine Erfahrung für‘s Leben, dort unten bei der Gaskammer zu stehen und ich werde es nie vergessen.“
Dr. Christoph Smolenski (vorne) bei der Nachbesprechung im PJG (2014)
Die Eindrücke und Erfahrungen, die Schülerinnen und Schüler der Klassen 10 des Peter-Joerres-Gymnasiums Ahrweiler nach dem Besuch der Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus später in der Schule zur Sprache bringen, ähneln sich jedes Jahr. Die Fahrt zur ehemaligen nationalsozialistischen Vernichtungsstätte in Hadamar und das ausführliche Gespräch darüber in der Schule gehören seit nunmehr 20 Jahren zum fixen Programmpunkt gegen Ende des Schuljahres. Eine besondere Note und Abrundung erhält die Veranstaltung durch die enge Kooperation mit Dr. Christoph Smolenski. Der ehemalige ärztliche Direktor und jetzige Geschäftsführer der Dr. von Ehrenwall’schen Klinik nimmt regelmäßig an den Nachbesprechungen teil.
Verständnisbereitschaft für psychisch erkrankte Menschen fördern
Mit ihm gelingt der bei diesem historischen Thema besonders wichtige Gegenwartsbezug. Sein Anliegen ist es, Verständnisbereitschaft für psychisch erkrankte Menschen zu fördern und Vorurteile ihnen und ihren Krankheiten gegenüber abzubauen. Die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums können in Hadamar unmittelbar nachvollziehen, zu welchen Konsequenzen eine extreme Form der Stigmatisierung psychisch kranker und körperlich behinderter Menschen geführt hat und führen kann.
Die Vernichtungsstätte: vor dem Standort der Krematorien
Die Nationalsozialisten unterschieden bekanntlich zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben und nahmen sich das Recht heraus, die Kriterien für die Trennlinie zwischen diesen beiden „Volksgruppen“ selbst festzulegen. Maßstab war der Kostenfaktor. Das wurde Schülern der damaligen Zeit bereits im Mathematikunterricht vermittelt: „Der Bau einer Irrenanstalt erforderte 6. Mill R[eichs]. M[ark]. Wieviel Siedlungshäuser zu je 15.000 R.M. hätte man dafür bauen können?“ lautete eine Aufgabe in einem Lehrbuch.
Mit kalter Vernunft organisierte der NS-Staat auf einen persönlichen Befehl Hitlers hin ab 1939 die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. In Hadamar wurden 1941 über 10.000 Menschen vergast und danach fielen bis 1945 nochmals 5.000 der so genannten kalten Euthanasie durch Mangelernährung oder Todesspritze zum Opfer. Es ist in jeder Hinsicht erhellend, dort heute anhand von konkreten Opferbiografien zu sehen, wie schwammig die Trennlinie zwischen „lebenswert“ und „lebensunwert“ war und wie fließend die Übergänge. Unter den Ermordeten waren z.B. auch verwundete und nicht mehr einsatzfähige Soldaten.
Eindrücke werden anschließend in der Schule aufgearbeitet
Trotz intensiver Vorbereitung in der Schule wird den Schülerinnen und Schülern oft erst in der unmittelbaren Begegnung mit dem Ort des Verbrechens die Tragweite für die Beteiligten bewusst, für Opfer und Täter. Die anschließende Aufarbeitung in der Schule ist auch deshalb wichtig, damit die Emotionen und Eindrücke nicht diffus bleiben, sondern geklärt werden, indem man darüber spricht, sich dadurch distanziert und eine Verarbeitung auf der Ebene der Ratio stattfinden kann. Einige Fragen zielen naheliegend in die Abgründe der menschlichen Seele. Was lässt Menschen so unmenschlich werden? Hierzu gibt es keine abschließenden Antworten, sondern nur Erklärungsversuche. Aus psychologischer Sicht kann Dr. Smolenski als Facharzt für Psychotherapie dazu viel Erhellendes beitragen.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema sensibilisiert für brandaktuelle Fragen und Diskussionen – Sterbehilfe, pränatale Diagnostik, Umgang mit Behinderten und Behinderungen – und trägt dazu bei, fundiert und differenziert Stellung beziehen zu können. In einem zweiten Teil der Gesprächsrunde referiert Dr. Smolenski über verschiedene Krankheitssymptome, die Ursachen und die Therapiemöglichkeiten psychischer Erkrankungen. Dabei geht er besonders ausführlich auf die Erkrankungen ein, die bei Jugendlichen auftreten können. Das sich daran anschließende Gespräch mit den Fragen der Schülerinnen und Schüler zum weiten Feld der Psychiatrie beenden in der Regel die Veranstaltung, die viele Teilnehmer/innen in den vergangenen Jahren als persönlich bereichernd und interessant beurteilt haben.
Die Führung in der Gedenkstätte Hadamar orientiert sich am Weg, den die Opfer gehen mussten. Die Aufnahme entstand 2018 im Keller.
Interview: „Es war mir wichtig, dass das nicht in Vergessenheit gerät“
Am 17. Mai 2021 führten die vier Schülerinnen der Jahrgangsstufe 10 des Peter-Joerres-Gymnasiums Tabea Dörr, Alina Mombauer, Hena Sukicˇ und Leonie Schnitker ein Interview mit Dr. Smolenski und Sarah Behr, die im Rahmen ihrer Promotion im Archiv der Dr. von Ehrenwall’schen Klinik die Zeit während der NS-Herrschaft untersucht.
Frage: Warum haben Sie sich so ausgiebig mit dem Thema Euthanasie beschäftigt? Warum ist das für Sie so wichtig?
Dr. Smolenski: Als Psychiater empfinde ich das als eines der schrecklichsten Dinge, die man sich in dem Beruf als Arzt vorstellen kann, der ja eigentlich das Ziel hat Menschen zu behandeln und, wenn es geht, zu heilen oder zumindest ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Wenn dann der Arzt von einem politischen Regime missbraucht wird, auch aus Überzeugung handelt, nämlich Leben nicht zu verbessern und zu verlängern, sondern unter qualvollen Umständen zu beenden, dann ist das skandalös. Es war mir wichtig, dass das nicht in Vergessenheit gerät, damit sich hoffentlich dieses Drama nicht nochmal wiederholt.
Frage: Warum wurden Menschen mit psychischen Erkrankungen zu dieser Zeit als Last angesehen?
Dr. Smolenski: Nicht nur in dieser Zeit wurden Menschen mit psychischen Erkrankungen als Last angesehen. Es ist nur sehr unterschiedlich gewesen, wie die Menschen in unterschiedlichen Epochen damit umgegangen sind. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass „geisteskranke Menschen“ in verschiedenen Gegenden zu verschiedenen Zeiten z.T. sehr grausam behandelt worden sind. Sie wurden weggesperrt, in Gefängnissen und Verliesen, sind angekettet worden, je nachdem wie krank sie waren. Solche Menschen sind versteckt, jahrelang in sehr unhygienischen stallähnlichen Behausungen beherbergt worden. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in Folge der französischen Revolution eine Reformbewegung, um die geisteskranken Menschen zu befreien und in eine menschenwürdige Umgebung zu bringen und sie auch zu behandeln. Das gab es vorher eigentlich gar nicht.
Frage: Es wurde damals ja in der NS-Propaganda so dargestellt, dass die psychisch kranken Menschen ein Ballast für die Gesellschaft wären. Glauben Sie, dass ein größerer Wohlstand zu einem anderen Umgang mit diesen Menschen geführt hätte?
Dr. Smolenski: Das glaube ich nicht, dass in Notzeiten gezielt an den geisteskranken Menschen hätte gespart werden sollen. Es war eine ganz perfide Strategie der Nazis, dass man Menschen aushungerte, die Verpflegungssätze in den großen Krankenhäusern systematisch reduzierte und die Leute einfach weniger zu essen hatten – sowas habe ich von einer früheren Zeit nie gehört.
Frage: Wussten Angehörige der Opfer über die wahren Todesursachen Bescheid, ahnten sie etwas, trotz falscher Angaben auf den Totenscheinen?
Dr. Smolenski: In relativ wenigen Fällen haben Angehörige der offiziell mitgeteilten Todesursache nicht geglaubt und haben Beweise angefordert, haben auch Verfahren angestrebt. Mir sind Einzelfälle bekannt, bei denen die Familie nachgehakt hat. Ich kenne allerdings die Aussage, dass viele der Familienangehörigen sogar erleichtert waren, als sie vom Tod ihres Angehörigen erfuhren, und gar kein Interesse daran hatten, irgendetwas Näheres zu erfahren. Viele erlebten also die chronisch kranken Menschen als Last. Andere wiederum haben sich liebevoll um ihren geisteskranken Familienangehörigen gekümmert und waren empört, als sie hörten, dass dieser plötzlich so schwer krank gewesen sein sollte, weil sie ihn noch eine Woche vorher besucht und ihn da noch bei bester Gesundheit erlebt hatten.
Frage: Gab es für die Angehörigen der Opfer Therapieangebote, die Geschehnisse zu verarbeiten?
Frau Behr: In ganz vielen Familien wurde das totgeschwiegen. Es war auch diese Stimmung nach dem Krieg: Jetzt ist das endlich vorbei, jetzt schauen wir nach vorne. Es gibt ein bekanntes Beispiel einer Frau namens Sigrid Falkenstein. Sie stieß im Internet zufällig auf den Namen ihrer Tante, Anna Lehinkering, als sie die Namensliste der Opfer der „Euthanasie“ gelesen hat. Dann hat sich Frau Falkenstein mal auf Spurensuche begeben und das Schicksal dieser Tante recherchiert. Es ist ein Beispiel dafür, dass man in den Familien damals darüber nicht mehr gesprochen hat. Es war ja auch eher ein Stigma, ein psychisch krankes Familienmitglied zu haben. Dieses Wort „erbkrank“ hat sich ja über Jahrzehnte weitergetragen und war in der NS-Zeit ein Damoklesschwert über den Angehörigen.
Dr. Smolenski: Es galt in der Familie als Makel, wenn man in der Familie einen nicht „erbgesunden“ Menschen hatte.
Frau Behr: Ich habe hier eine Krankenakte von einer Patientin aus dem Jahre 1944. Da steht hinten als Protokoll der Anamnese drin: Die Familie sei gesund. Von Nerven- und Geisteskrankheiten sei nichts bekannt. Die Patientin sei immer sehr nervös und leicht aus der Fassung zu bringen gewesen, jedoch nie nerven- bzw. geisteskrank gewesen. Gerne wurde in den Akten auch betont: Hat immer gearbeitet, war fleißig in der Schule, war also ein vollwertiges, arbeitendes Mitglied der Gesellschaft. Darauf hat man damals immer Wert gelegt, auch ungefragt.
Frage: Können Sie was zu der Rolle der Dr. von Ehrenwall’schen Klinik in der NS-Zeit sagen?
Dr. Smolenski: Grundsätzlich muss man sagen, dass diese Klinik kein staatliches Haus und finanziell unabhängig war. Dadurch hatte das Personal es hier leichter als z.B. in Andernach, wo die leitenden Ärzte unter dem Druck der staatlichen Behörden und der NSDAP standen. Das war hier nicht so stark ausgeprägt, obwohl auch hier einmal im Jahr eine Visite stattfand, an der ein Vertreter der NSDAP und der Regierung wie auch der ärztliche Leiter der Landesheilanstalt Andernach teilnahmen. Die kamen einmal im Jahr hier hin um zu schauen, ob alles in Ordnung war und um die Konzession des Krankenhauses zu verlängern. Das waren immer schwierige Zeiten. Weil dann immer auch danach gefragt wurde: Habt ihr nicht Patienten, die der T4-Aktion (Name für das „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten) „zugeführt“ werden müssen?
Frau Behr: Hier sind fast noch alle Akten erhalten. Nur einige wenige Akten sind beim großen Bombenangriff im Januar 1945 verloren gegangen. Anhand der vorhandenen Akten lassen sich Biografien rekonstruieren.
Ich habe mir ganz genau die Akten von Patienten angeschaut, die verstorben sind. Wann ist es passiert, was ist passiert, ist es schlüssig? Warum sind sie verstorben? Es gab übrigens von hier aus einen größeren Transport nach Andernach, einen Tag nach dem Bombenangriff am 29.01.1945. Die Patienten mussten verlegt werden, weil man sie hier nicht mehr unterbringen konnte. Ein Teil von ihnen ist dann wenige Monate später wieder zurückgekommen.
Der Autor war bis Juli 2021 Lehrer für Geschichte und Katholische Religion am PJG. Das vollständige Interview steht auf der Homepage des Gymnasiums https://www.pjg-aw.de