1200 Jahre Ländchen Heckenbach
1200 Jahre Ländchen Heckenbach
Festvortrag gehalten am 14. Mai 1972
VON JOSEF RULAND
Meine sehr geehrten Damen und Herren, verehrte Festversammlung zur 1200-Jahr-Feier des Ländchens Heckenbach!
Sie gestatten mir zu Beginn des Vertrages eine kleine persönliche Bemerkung, die aber wieder doch in Verbindung mit dem heutigen Feiertage steht. Wie Sie wissen, begeht man heute in Mitteleuropa den sogenannten Muttertag, zwar vom Gartenbaugewerbe kräftig publiziert, aber doch mit einem schönen Sinn. Ich benutze diesen 14. Mai gern, um vor allen Müttern, lebenden und verstorbenen dieses Ländchens Heckenbach, meine Ehrfurcht auszusprechen. Ohne sie wäre das Ländchen nicht in den 1200 Jahren lebensfähig gewesen, ohne sie hätte es vor allem nach dem Kriege keinen Wiederaufbau gegeben. Besonders grüße ich bei dieser Gelegenheit die Mutter meiner fünf Kinder, meine Frau also, die schon seit mehr als zehn Jahren so manchen Sonntag, auch den heutigen, der Sache zuliebe geopfert hat.
Foto: Jakob und Helene Steinborn
Dr. Josef Ruland
Eine Mutter war es auch, eine Bertrudis, der wir die erste urkundliche Nennung des Ortes Heckenbach danken. Am 29. Juni 772 schenken sie und ihr Sohn Waningus Ländereien an das Kloster Kesseling, von dem wir zehn Jahre zuvor zum erstenmal Urkunde haben. Und zwar heißt es in dem für Heckenbach so wichtigen Absatz:
Sie schenken dem Kloster Kesseling Land in dem Adagane (Hagane) genannten Ort, gelegen im Eifelgau. Wir wollen uns jetzt nicht darüber unterhalten, ob mit diesem Adagane (Hagane) genannten Ort nun wirklich Heckenbach gemeint ist, wir könnten uns sonst den schönen Tag restlos verderben. Peter Schug z. B., der enorm kenntnisreiche Chronist aller Pfarreien des Ahrdekanats und ehemalige Pfarrer in Herschbach, hat diesen Ortsnamen nicht akzeptiert. „Bei Kesseling“, das spricht für Heckenbach, die Lage allerdings im Eifelgau dagegen, nicht gerade dafür auch die merkwürdige Gleichsetzung von Hagane mit Heckenbach, denn wir wissen, daß die Bachnamen einer späteren Zeit angehören. Jungandreas, der fleißige Herausgeber der historischen Orts- und Flurnamen des Mosellandes, läßt deshalb auch die Angelegenheit in der Schwebe.
Trösten wir uns. Heckenbach besaß in der Bertrudis eine berühmte Stammutter; denn sie gehörte zum Geschlecht der Karolinger, die gerade vier Jahre vor der Nennung mit Karl dem Großen den bekanntesten auf den Thron gehoben hatten. Unser Ort und alles drum herum, also auch Oberheckenbach, Fronrath und Watzel, sofern diese damals bereits bestanden, gehörten zum königlichen Gut und blieben lange Jahrhunderte bei diesem. Verwaltet wurden sie mitsamt dem ganzen Waldgelände zwischen Kesseling, Blasweiler, Ramersbach und anderen vom königlichen Hofe in Sinzig, sofern wir nicht dort von einer regelrechten Pfalz sprechen wollen. Wir müssen uns natürlich diese Wälderorte nur als Höfe, höchstens als Weiler vorstellen, deren Bewohner von etwas Viehzucht, Holzwirtschaft, vor allem von der Holzkohlengewinnung leben. Immer wieder hat ein Wagemutiger versucht, in unseren Dörfern Eisen zu gewinnen; „auf der Eisenkaul“ heißt die Gemarkung, „am Rosengarten“ eine andere, aber Erfolg hatte man nicht. Mit dem Verwaltungssitz Sinzig sind denn unsere Orte in die Auseinandersetzung gezogen worden, die .zu den langwierigsten des Römischen Reichs deutscher Nation gehörte, die zwischen Weifen und Staufern. Und damit indirekt auch das Ländchen Heckenbach. Der Burggraf der Landskrone stand zunächst auf Seiten des Weifenkönigs Otto des IV., schwenkte dann aber nach einigen Jahren starken Drucks in das Lager der Staufer. Rudolf von Habsburg, der sich als Nachfahre der Staufer betrachtete, belieh deshalb 1276 am 1. November im Lager vor Wien den Ritter Gerhard von der Landskrone u. a. mit den Orten Königsfeld und Heckenbach. 1328 erfolgt zum erstenmal die Erwähnung einer Kirche in Heckenbach. Damit haben wir nunmehr drei Daten: 772 erste Erwähnung, 1276, also fünfhundert Jahre später, Übergabe an das Geschlecht der Landskroner und fünzig Jahre danach Erstnennung der Kirche. Als wenig später Gerhard, Herr der Landskrone, sein Testament macht, erhält der Pastor zu Heckenbach auch eine Zuwendung.
Haupternährer bleibt der Wald, zu dessen Aufsicht sieben Förster eingesetzt werden, vier von Sinzig, drei von Heckenbach, aus dem Kirchspiel, mit einem Meister an der Spitze. Der Wald gibt Wild, Holzkohle, Weinbergspfähle, Lohe, Brennholz, Zaunholz, Ginster für Besen und schließlich Reiserholz. Dafür darf, entgegen dem sonstigen allgemeinen Brauch, kein Vieh in den Wald getrieben werden. Sie sehen, es war ein „staatser“ Wald, ein guter Wald. Natürlich blieb diese Einigung mit Sinzig nicht frei von Ärger, sonst besäßen wir nicht die Verfügung eines späteren Kaisers, Ludwigs des Bayern, daß er der Stadt Sinzig eigens Zurückhaltung gegenüber Heckenbach befiehlt. Am 12. November 1371 fällt nach unserem Wissen das erstemal der Name Vronrode (Fronrath) in einer Urkunde, und zwar als Gerhard, Herr der Landskrone, seinen drei Schwiegersöhnen sein Erbe aufteilt, wobei Dietrich Herr zu Schönberg, Heckenbach und Fronrath, zumindest die Menschen hier zugeteilt erhält. Dabei fallen die ersten Familiennamen hier, nämlich Johann Kerne und Heinrich Clockener. Diese drei Schwieger Herrn Gerhards bleiben innerhalb der Burg Landskrone wohnen, so daß die Burg fortan in mehrere Linien aufgeteilt ist, die alle im gleichen Burggelände verschiedene Häuser haben. Dabei erhält die Einenberger Linie den festen Besitz von Fronrath und Heckenbach. Wir können an dieser Stelle nicht darauf eingehen, welche Familien durch Heirat mit den Landskronern verwandt und dadurch nicht unbedeutend für unsere Orte wurden. In der Einenberger Linie spielen die Familien von Eltz und die Quad von Landskron eine Rolle, in der eigentlichen Landskroner Deszendenz tauchen Namen auf von Rheineck, von Saffenberg und von Manderscheid. Der berühmte letzte Herr in dieser Linie war kein Geringerer als der Reichsfreiherr Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein. In der Einenberger Linie wird das Besitztum 1555 an die Familie Walbott-Bassenheim später zu Gudenau verkauft, damit an ein ebenfalls in rheinischen Landen bekanntes Geschlecht.
Foto: Kreisbildstelle
Blick ins Heckenbacher Tal
Interessanter für uns als einfache Kinder des Volkes ist folgendes. Die Herrschaft Landskron bestand aus vier zusammenhängenden Kleingebieten. Im Norden ist es Oberwinter, übrigens auch Königswinter, Ödingen, Birgel, Bandorf und Unkelbach. Südlich davon die Landskrone selbst mit Nierendorf, Kirchdaun, Wadenheim, Heimersheim, Gimmigen, Ehlingen und so fort. Etwas östlich Sinzig und Westum, am Vinxtbach Königsfeld, damals ja befestigter Ort mit dem Ehrgeiz eine Stadt zu werden, Vinxt, Schalkenbach und Dedenbach. Und dann hier im Westen: Die beiden Heckenbach, Fronrath, Watzel und Cassel. Blasweiler, Ramersbach, Kesseling, Denn und Brück gehörten nicht dazu, auch die Verbindung zwischen Sinzig und dem Ländchen ist unterbrochen, und ohne es genau zu wissen, möchte ich annehmen, daß bis in unsere Tage davon ein Gegensatz zwischen Blasweiler und Heckenbach bestehen geblieben ist. So etwa war der Bestand des Ländchens um 1370, also 100 Jahre nach der endgültigen Übernahme durch die Landskrone. Ein richtiger kleiner Herrschaftsblock hier inmitten der Eifelberge.
Man ging ja damals mit Mensch und Vieh, was die Obrigkeit anlangte, nicht immer zimperlich, um, so etwa, wenn 1412 das ganze Ländchen Heckenbach von Kraft von Saffenberg und seiner Frau Elisabeth von Tomberg an Ruprecht von Virneburg und seine Frau Agnes verpfändet wird, wozu übrigens anzumerken ist, daß immer die Familien der beiden Eheleute haften. Die Pfandnehmer durften in diesem Falle in Heckenbach schalten und walten, wie sie wollten, d. h. im Rahmen der ihnen zustehenden Rechte, nur durften die Menschen nicht auswandern. Dieser Kraft von Saffenberg war nebenbei bemerkt öfter in Geldverlegenheit, denn elf Jahre später wird das Ländchen an Heinrich von Moers verpfändet, übrigens mütterlicherseits mit den Neuenahrer Grafen verwandt, die sich damals anschickten, als Grafen, von Moers am Niederrhein eine bedeutsame Rolle zu spielen. So war dieser Heinrich von Moers kein anderer als der Bischof von Münster, der wiederum verwandt war mit dem Kölner Erzbischof Dietrich von Moers. Man erlebte an einigen solchen Hinweisen, daß das Ländchen nicht aus der Welt lag, sondern bei entsprechenden politischen Bewegungen sehr schnell in größere Auseinandersetzungen verwickelt werden konnte.
1357 wird Cassel als Cassil zum erstenmal genannt. Watzel wird damals in den Urkunden Wattindal oder Walzindal genannt, Fronrath Froroth. Wenn damals im ganzen Kirchspiel Hecken bach 55 Familien gewohnt haben, dann ist mit 275 bis 300 Personen der menschenmäßige Umfang des Ländchens gegeben. Die beiden Eifelklöster Steinfeld und Maria Laach hatten auch Besitz im Ländchen, so Steinfeld einen Hof in Fronrath, der aber später an den Grafen von Manderscheid-Schleiden kam, und Maria Laach Land, das bei Auflösung des Kirchenbesitzes im Jahre 1802 48 Morgen Acker und etwas Wiese ausmachte. Um 1450 waren öfter vertretene Familiennamen in unseren Dörfern, Namen wie: Fuchs, Ringelwald, Knappe, Winands, Arndts, Pimpiler, Heynmanns, Kurendal, Thys, Jacobs, Clynen, Mey, Punds, Clais, Sanders, Choll, Crisser, Nösel, Molener (Müller), Knorrs, Storms, Schwarzen, Clockeners, Schubusch, Hirschen. Aber es muß schon ein Bader, so eine Art Heilkundiger dabei gewesen sein, der recht früh für Watzel bezeugt ist. Nach der Familie Koll wurde der Kollhof genannt, der eine halbe Wegstunde von Fronrath entfernt lag. Im Forst Langhardt, ebenfalls eine halbe Wegstunde von Fronrath entfernt, lag das Forsthaus Langhardt.
Über die Kirche wissen wir für die frühere Zeit sehr wenig. Ihr Patron war der hl. Pankratius, dessen Fest am 14. Mai begangen wird und dem zu Ehren ganz gewiß der heutige als festlicher Tag gewählt wurde. Eine sehr schöne Holzfigur von ihm wurde vor der Evakuierung in das Diözesanmuseum in Trier überführt. Daneben gab es noch einen Altar zu Ehren der hl. Luzia und des hl. Nikolaus, an dessen Stelle später der Altar zu Ehren des hl. Sebastian tritt. 1828/29 ist der jetzige Kirchenbau errichtet worden, der nach Meinung Peter Schugs von dem Koblenzer Baumeister Nebel entworfen worden ist. 4000 Taler hatte seinerzeit der Bau gekostet, wozu die Gemeinde 180 Eichen verkaufte und jeder Gespanninhaber damals 100 Fuhren in die Watzeler Hardt machen mußte, um dort Steine zu holen, oder Sand vom Spes-sart. Mit dem Neubau kam als neue verehrungswürdige Patronin die hl. Apollonia nach Heckenbach, die bei Zahnschmerzen helfen sollte. Zu ihrer Verehrung wurde auch eine Wallfahrt eingerichtet, die von Pfarrer Adams wieder abgeschafft wurde. Die Kapelle in Fronrath von 1743 war dem hl. Apollinaris geweiht, die von Kassel dem hl. Stanislaus. Der schöne Altaraufsatz mit den beiden Figuren des hl. Pantaleon und hl. Rochus kam ja später nach Kesscling. Die Kapelle von Oberheckenbach, die auf 1730 datiert ist, hat den hl. Michael als Patron und war von der Familie Walpott Bassenheim zu Gudenau ausgerüstet. 1863 hat Watzel seine neue Kapelle erhalten, da die alte baufällig geworden war. Sie war nach der Heimsuchung Mariens genannt worden.
Das Pfarrhaus war 1743, und zwar vom Pfarrer Krupp erbaut worden und diente noch eine ganze Zeit als Schule. Von Krupp ist die nette Anekdote überliefert, daß er anläßlich einer Mission in der Pfarrei, welche die Jesuiten 1735 durchführen wollten, mit diesen in Streit geriet.
Foto: Kreisbildstelle
Pfarrkirche in Heckenbach
Es ging um den Standort des Missionskreuzes, welches der Pastor gern hier, die Jesuiten aber lieber dort gesehen hätten. Es kam zu keiner Einigung. Aus Ärger über den Vorfall verließ Krupp für die Dauer der Mission den Ort und wurde nicht gesehen.
Der Pfarrer lebte lange Jahrhunderte von der Landwirtschaft, zu deren Einkünfte Pachten kamen; 1882 hat der Grundbesitz der Pfarrstelle 85 Morgen betragen, nach heutiger Rechnung also etwa 20 Hektar, wovon natürlich längst nicht alles bebauungsfähiges Eand war. Zwar wird das religiöse Leben der Einwohner durchweg als gut bezeichnet, aber es bleiben halt wenige. 1750 zählt die Pfarrei etwa 400 Menschen und kurz vor der Aussiedlung 1938 sind es insgesamt 702 Personen. Unter den Pastoren und Frühmeßnern ist vor allem Peter Steins aus Kesseling zu nennen, der von 1754 bis 1803 hier wirkte und hauptsächlich als Lehrer tätig war, wobei zum Schulunterricht lange, lange Zeit, nämlich bis 1837, das Pfarrhaus als Schule benutzt wurde. Lange war auch Chr. Napoleon Leinen (ein interessanter Name) Pastor hier, nämlich von 1872, also im Kulturkampf, bis 1902. Ihm folgten die Pastöre Demerath, Nikolaus Becker, Ferdinand Ballat, wenn ich nicht irre ab 1943 in Mayschoß, wo er begraben liegt, und als letzter vor der Ausweisung Franz Schöneberger, der 1938 die Pfarrei Wadgassen übernahm, wo als vom Pfarrdienst beurlaubter Priester damals bereits der im Ahrgebiet besonders bekannte Schriftsteller Johannes Kirschweng saß, ehedem Kaplan in Bad Neuenahr. Hier wäre noch einzuflechten, daß die Pfarrei von Beginn bis 1802 zum Erzbistum Köln gehörte, 1802 bis 1822 zu Aachen, das war ja die im Rheinland berühmte napoleonische Neuordnung, und ab 1822 zum Bistum Trier. Als das linke Rheinufer im Frieden von Luneville zu Frankreich geschlagen wurde, kam Heckenbach zum Arrondissement Bonn und zur Mairie, also zum Bürgermeisteramt, Virneburg, das man beibehalten hatte, weil sich hier seit den Grafen von Virneburg eine kleine Verwaltung gebildet hatte. Zur zivilen Trauung mußte also das junge Paar nach Virneburg und wieder zurück wandern, wobei sich meiner Meinung gar mancher unterwegs Überlegen konnte, ob dieser Schritt auch der richtige sei. Später kam das Heckenbacher Ländchen mit der preußischen Verwaltungsreform an die Bürgermeisterei Niederzissen, wohin der Weg auch nicht viel geringer war. Ab 1870 begannen die Schulverhältnisse in allen Orten des Ländchens besser zu werden. Nach Niederheckenbach, Kassel und Fronrath kamen Lehrer, die ihre Besoldung damals zum Teil in Land und Brennholz erhielten. Mit der allgemeinen Bildung wuchsen langsam auch die technischen Errungenschaften in den Dörfern, wenngleich immer wieder Rückschläge erfolgten. Nach Aussage von Herrn Lehrer Kiel, ehedem in Fronrath, sind in den Kriegen 1866 und 1870/71 zehn junge Männer der Gemeinde Soldaten gewesen, wovon einer, Herr Peter Weber, 1934 im Alter von 91 Jahren starb. Bis 1830 gab es noch Wölfe in der Eitel*). Man muß das alles einmal sagen, wegen der nachfolgenden Generationen, die ohnehin die Güter der Erde zu gering achten, weil sie nichts um die Mühseligkeit des Erwerbs wissen. Wann kam Wasser in der Wasserleitung nach Heckenbach? Ich weiß es nicht. Nach Fronrath wurde 1905 die Wasserleitung gelegt und das Wasser mußte mit einer Windmühle hochgepumpt werden. Ab 1885 erst wurde die Ahrtalbahn von Ahrweiler nach Adenau ausgebaut, und wenn auch später Busverbindungen bestanden, so scheuten doch viele aus unserer Elterngeneration noch diese Ausgaben, weil sie einfach nicht zum Haushalt der Familie paßten. Wer nach Ahrweiler zum Kreishaus mußte, der ging zu Fuß. Und unsere Mütter, ich erlebte das als Junge sogar in einem Badeort wie Neuenahr alle Tage, unsere Mütter trugen die Lasten von hier oben, etwa Eier, Hühner, Waldbeeren und solche Kleinerzeugnisse auf dem Kopf in die Orte wie Ahrweiler, Neuenahr, Altenahr und Adenau. Man muß sich überlegen, daß auch hier im Ländchen 1817, ja noch 1889 und 1892, wenn ich nicht irre, der Hunger umging, daß von staatlicher Seite Gulaschkanonen der Militäreinheiten eingesetzt wurden, die mittags warme Suppen in die Dörfer bringen mußten. Bahnbau und nach dem ersten Weltkrieg Bau des Nürburgrings wurden als Verbesserung der Arbeitslage für unsere Dörfer angesehen und bedeuteten auch tatsächlich eine Besserung auf dem Arbeitsmarkt. Damals schon wanderten die jungen Burschen auch von hier zum Niederrhein in den Kohlebergbau und in die Industrie, um so der heimischen Not zu entrinnen. Das kann, nein, man muß es unseren jungen Leuten immer wieder sagen, selbst auf die Gefahr hin, ausgelacht zu werden. Wenn man überlegt, daß der erste Weltkrieg 21 Menschenleben forderte, nach dem Bevölkerungsstand von damals drei Prozent, und daß dies arbeitsplatzmäßig fast noch eine Art Gesundschrumpfung des Überangebotes war, dann sagt das doch genug. Unter diesen Vorzeichen war Sparsamkeit einfach lebensnotwendig. Grundnahrungsmittel war und bleibt die Kartoffel, Fleisch stand fast an letzter Stelle. Hinzuverdiente wurden regelrecht in den einzelnen Haushalt einkalkuliert. Die „Walbere“ im Herbst, die „Wacholler“, die „Brämele“, die Pilze, den Ginster als Besenreiser, diese Dinge waren doch bis zu Beginn der Evakuierung für uns hier in der Ahreifel tägliche Wirklichkeit.
Aber die Menschen rückten enger zusammen, waren mehr aufeinander angewiesen. Das begann bei der Geburt und endete beim Gang zur letzten Ruhe, der gerade hier im Ländchen sehr brauchintensiv gewesen ist, da ja alle auf den Friedhof bei der Pfarrkirche, also hier in Heckenbach kamen. Unterwegs stand der Leichenzug, bei dem aus jedem Hause mindestens einer teilnehmen mußte, dreimal still. Man wandte sich dem Dorfe zu und betete ein Vaterunser. Unverheiratete, so erforderte es die Sitte, wurden den ganzen Weg getragen. Darüber gäbe es noch viel zu berichten, wie auch über die schöne Sitte, daß man den älteren Aussiedlern 1938/39 je ein kleines Säckchen mit Erde von hier mitgab, das dann bei ihrem Tode in den Sarg gelegt wurde.
In diese Welt — es war keine heile Welt; denn die heile Welt ist eine Geburt menschlicher Phantasie— trat ab 1937 der Schrecken der Aussiedlung, die dann in den Oktober-Novembertagen des Jahres 1938 zu Ende ging. Mit der Anlage eines Segelfliegerlagers bei Fronrath 1934 hatte es eigentlich begonnen. Der 1. November 1938 war der Stichtag; am 7. November 1938 wurde hier in Niederheckenbach die letzte Messe gelesen, worauf das Allerheiligste nach Oberheckenbach, von wo aus es dann am 19. Februar 1939 nach Ramersbach kam. Damals erfuhr man rundherum wenig davon; denn man wollte so wenig wie möglich über die Anlegung dieses großen Luftwaffenübungsplatzes hier in den Bergen der Ahreifel an die Öffentlichkeit dringen lassen. Wohl gaben die Kreise Ahrweiler und Mayen damals ein Buch allen Auswanderern mit, bzw. sandten es ihnen zu, genannt „Eifelland“, aber andernorts war das gar nicht so bekannt, wie wir es uns vielleicht vorstellen. Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, daß zehn Monate nach dem Stichtag der zweite Weltkrieg begonnen hatte. Überall war man zu sehr mit sich und seinem Schicksal beschäftigt. Manche Familien blieben in der Nähe, andere gingen doch weiter weg und wurden durch die Wirren des Krieges auch von diesen neuen Plätzen abermals verschlagen. Unsere Menschen hier, bis dahin trotz Not und Elend und Abwanderung zu den Seßhaftesten gehörend, wurden nunmehr sinnbildlich zu ruhelosen Wanderern. Unsere Landschaft — das Heckenbacher Ländchen — fiel auf einmal aus dem Zustand einer fast 12()0jährigen Vergangenheit iii den Urzustand der absoluten Geschichtslosigkeit. Es war sogar für mich, als Nichtbeteiligter, ein eigenartiges Gefühl, als ich während des Krieges als Urlauber in Neuenahr weilte und von dort aus den Steinerberg besuchte, wo sich ein kleines Luftwaffenkommando aufhielt, und man genau wußte, daß südostwärts von Kesseling-Staffel ein ehemals höchst lebendiges Gemeinwesen — immerhin zählte man 1937 702 Einwohner — erloschen war, scheinbar für immer von der Landkarte verschwunden. Die Ironie bestand ja auch darin, daß praktisch mit Eintreten des Geländes in sein Dasein als Übungsplatz die ganze Maßnahme schon wieder hinfällig war, überholt von einer sich damals geradezu überschlagenden Politik. Die Maßnahme hätte erspart bleiben können, obgleich sich heute erweist, daß dieser Schritt in der Geschichte des Ländchens Heckenbach auch der bei weitem folgenschwerste war. Sie alle hier im Zelt wissen eigentlich viel besser als ich, wie es weitergegangen ist. Sie wissen, daß nach diesem Kriege, bereits 1946, die Pläne aufkamen, hier mit Hufe des Siedlungsverbandes Ahrbrück in dieses landschaftliche Vakuum die ehemaligen Bewohner und später ermländische Siedler in einer geschlossenen Siedlergruppe anzusiedeln, um ihnen, deren Los ja noch schlimmer gewesen ist als das der Einheimischen, die Möglichkeit zu geben, im Verbände mit gegenseitiger Unterstützung und Hilfe zu siedeln, ihnen dadurch eine ganz entscheidende seelische Hilfe zu geben. Für den Historiker ergibt sich dadurch, jenseits aller menschlichen Tragik und allen Elends eine faszinierende Möglichkeit. Hier konnte mit Genauigkeit und Sorgfalt beobachtet werden, wie die beiden Bevölkerungsgruppen aufeinander ansprachen, miteinander verschmolzen. Von den 160 Siedlerstellen, die ja nach dem Wunsche aller zum größten Teil echte Ernährungsstellen werden sollten und nur zum kleineren Teil Nebenerwerbsstellen, entfielen auf das Heckenbacher Ländchen 26 Stellen. Das waren immerhin genug, um auch in unseren Orten den Integrierungsvorgang zu beobachten, zu analysieren, um bei ähnlichen Prozessen in der Zukunft Fehler zu vermeiden. Da kamen doch neue Sitten und Gewohnheiten mit, eine ganz andere Sprechweise und vieles mehr. Für das Gebiet der Volkskunde hat Ulrich Tolksdorf mit dem Buche „Volksleben in den Ermländersiedlungen in der Eifel“, 1967 in Marburg erschienen, einen Beitrag dazu geleistet. Andere Unterlagen fehlen. Wenn man an eine neue Auflage derHeimatchronik des Kreises Ahrweiler ginge, müßte man diese Fragen berücksichtigen. Unbedingt. „Wie wirkt sich der Zustrom fremden Blutes in der Schule aus? Wie steht es mit der Berufswahl der sogenannten Einheimischen und der Zugewanderten? — Heute, dessen sind wir uns alle bewußt, ist schon längst der Sturm der Industrialisierung und Technik auch über dieses stille Tal eingebrochen. An Bauer spielen denken nur die wenigsten Männer und Frauen mehr. Und das Holz gibt längst nicht mehr die Preise, die noch die Chronisten des genannten Buches „Eifelland“ 1940 zu der Meinung verführten, hier würden bei sinnvoller Nutzung Millionen heranwachsen. Heute fahren auch aus dein Heckenbacher Ländchen tagaus tagein die Pendler in die näher- oder weiterliegenden Betriebe, um dem täglichen Brot nachzugehen. Und wir müssen, gemessen an den hiesigen ehemaligen Lebensumständen froh sein, daß einige Unternehmen auch den Weg ins Tal gewagt haben, was zwar der Landschaft nicht besonders bekommt, aber bevölkerungspolitisch sehr wichtig ist.
1956 schon wurde die Kirche wieder hergerichtet, die so einmalig schön auf dem kleinen Hügel neben unserem Zelt liegt, die in ihren neuen Fenstern versucht hat, unsern Ermländern das Schicksal zu erleichtern, indem sie Symbole und Heilige Ostpreußens dem Betrachter weisen. 1961 ergab die Volkszählung für die Dörfer (Siedlungen) unter dem Namen Heckenbach 263 Personen. Das ist nicht viel, aber wir wissen ja, daß es der Plan war, nicht allzuviele Bewohner einströmen zu lassen, weil die Arbeitsplätze mangelten. Wenige Jahre später war die Zahl, wie der Statistik des Landes Rheinland-Pfalz zu entnehmen ist, bereits um 30 Personen gestiegen, eigentlich ein gutes Zeichen, denn gerade in der Zeit zwischen 1961 und 1966 haben die Einwohnerzahlen vieler Dörfer und größerer Orte eine fallende Tendenz. Wem wäre die steigende Ziffer zu verdanken? Eine aufschlußreiche Frage: Unseren Eiflern, oder unseren Ermländern? Im allgemeinen wandert ja das junge Volk der Industrie nach. So hat also das Ländchen Heckenbach nach genau 600 Jahren trotz des auf und ab, aber unter ganz anderen Vorzeichen als damals, die gleiche Einwohnerzahl.
Als ich im Februar hier weilte, um mir so einige Informationen zu holen über Ablauf und Sinn des Festes, -wie man das zu tun pflegt, wurde ich von Oberlehrer Schneider und Herrn Kowalinski empfangen, der eine ein quasi Hiesiger, der andere ein quasi Ermländer. Ich weiß nicht, ob die Kombination beabsichtigt war, um die Parität zu demonstrieren. Mir kam das wie ein gutes Zeichen vor, ein Zeichen für den Geist der Bevölkerung, ihren Lebenswillen und ein Zeichen für das Heckenbacher Land.
*) 1850/51 wurde die Straße Staffel—Heckenbach in einen einigermaßen guten Zustand versetzt, 1855 der Waldweg nach Nonnert durch die Oberheckenbacher Hardt. Von Oberheckenbach nach Blasweiler wurde der Weg erst 1865 beendet.